Götterdämmerung (German Edition)
selbst. Sie machte sauber, kochte Essen oder las eines der vielen Bücher, die ihr zur Verfügung standen. Genug Zeit für mich , dachte die Alte.
Sie stellte sich in die Küchentür und sah das Mädchen an. „Zeit für einen langen Traum!“, sagte sie mit fester Stimme. Maria fuhr hoch. „Zeit für einen langen Traum?“, fragte sie verwirrt.
„Ja.“ Die alte Frau schenkte ihr ein warmes Lächeln und verließ die Küche. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Maria sich bereits wieder der Hausarbeit zugewandt hatte. Wahrscheinlich hielt sie sie für etwas wunderlich, aber das störte die Alte nicht.
Leise, um Maria nicht auf sich aufmerksam zu machen, lief sie ins Schlafzimmer, schloss die Tür und setzte sich auf ihr Bett. Sie zog die unterste Nachttischschublade auf. Verborgen unter einem Stapel alter Fotos, Schokoladenpapier und Zeitschriften lag in einer Schatulle ein Metallröhrchen mit einer klaren Flüssigkeit.
Die Alte nahm das Röhrchen, drehte es ein paar Mal in der Hand und betrachtete die winzigen eingravierten Buchstaben, die den Wirkstoff angaben. Dann hielt sie das Röhrchen gegen ihren Oberarm und drückte den Knopf am oberen Ende. Sie wusste, dass die Flüssigkeit jetzt das Röhrchen verließ und in ihren Körper strömte, aber sie spürte nichts. Das Verfahren war absolut schmerzfrei.
Als sie sicher war, dass sich kein Tropfen mehr in dem Röhrchen befand, schob sie die leere Metallhülle in die Schublade zurück. Dann legte sie sich hin, zog die Bettdecke bis unter das Kinn und drehte sich auf die Seite. So schlief sie am liebsten.
Die alte Frau hatte keine Angst vor dem Tod. Sie hatte vielmehr Angst davor, dass doch noch etwas dazwischen kommen konnte und nicht alles so planmäßig funktionierte, wie es ihr versprochen worden war. Aber diese Angst war klein im Vergleich zu ihrer Hoffnung. Es konnte schließlich immer etwas schief gehen, egal, was man tat. In ihrem Fall schien ihr das Risiko kalkulierbar.
Sie dachte daran, dass es streng genommen nicht sie selbst war, die zurückkehren würde. Nicht die Frau von sechsundachtzig Jahren, die hier im Bett lag und auf den langen Schlaf wartete. Aber das spielte keine Rolle, solange nur etwas von ihr hier blieb und weiter leben konnte. Was würde sie wirklich verlieren? Die letzten vier Jahre. Die Erinnerungen an die Mühseligkeiten des Alters, daran, dass sie immer langsamer wurde und ihr jede Bewegung schwer fiel. Was hatte sie schon erlebt in dieser Zeit? Meist war sie allein gewesen. Ihre Schwester wohnte weit entfernt und war fast genauso alt wie sie. Kinder oder andere Angehörige hatte sie nicht und lange hatte sie sie auch nicht vermisst – bis ihr auffiel, dass sie ohne Vermächtnis sterben würde. Sie wäre nicht erst nach Generationen, sondern bereits nach wenigen Jahren vergessen, nämlich dann, wenn ihre Schwester ihr folgen würde. Da sie auch sonst nichts hinterlassen hatte, an das zu erinnern sich lohnte, wäre ihr Tod tatsächlich das Ende.
Aber nicht mit Maria. Sie war das perfekte Geschenk und eins, das sie sich selbst gemacht hatte.
Die alte Frau dachte an das Mädchen, während sie immer müder wurde. Dann schloss sie die Augen und fragte sich, ob sie tatsächlich im Diesseits aufwachen würde und ob sie dann nicht ein Geist wäre.
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Simon dachte den ganzen Heimweg über an Isabelle: an ihre glänzenden Augen, die vollen Lippen, ihre warme weiche Haut. Er hatte versprochen, sie am Abend nach Dienstende abzuholen und anders als sonst, fiel ihm der Abschied von der Klinik diesmal schwer.
Er war fast zu Hause angekommen, als die schönen Erinnerungen wieder von der Enttäuschung über die missglückte Aktion verdrängt wurden. Plötzlich fuhren die Gedanken in seinem Kopf Achterbahn, drehten sich immer wieder um eine Frage: Was war passiert? Warum war Oliver nicht aufgetaucht? Der Boss hätte ihn zumindest informieren können, wenn er den Plan nicht durchziehen wollte. Oder ging es um diese Sache mit dem Sniffer-Programm, das angeblich über seinen Code installiert worden war? Traute Oliver ihm nicht mehr? Nach allem, was sie zusammen durchgezogen hatten? Er glaubte nicht daran. Er hatte Oliver erst vor wenigen Stunden in der Klinik getroffen – das war, bevor ihn dieser Mistkäfer mit dem Kabel attackiert hatte – und der Boss hatte sich ihm gegenüber verhalten wie immer.
Plötzlich kam Simon ein beunruhigender Gedanke: Vielleicht hatten sie das Spionageprogramm nicht ernst genug genommen! Was, wenn jemand
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