Götterdämmerung (German Edition)
Abend stand. Sein Trommeln ließ es leise vibrieren und eine Zeitlang sah er fasziniert seinen Fingern zu und lauschte dem kaum wahrnehmbaren Klirren. Ben fragte sich, ob er Sophie eine Nachricht hinterlassen sollte. Er fand es nicht fair, einfach zu gehen. Andererseits wusste er nicht so recht, wie man sich in einer fremden Wohnung verhielt. Hatte er jemals woanders als in seinem Zimmer in der Villa geschlafen? Er überlegte. Wahrscheinlich. Ja. Er hatte doch Freunde gehabt. Und eine Tante, die dreihundert Kilometer entfernt wohnte.
Wirklich ? Hatte er eine Tante?
Ben hatte Mühe, die vielen Bilder, die in seinem Kopf abliefen, zu sortieren. Welche gehörten zu ihm? Welche zu Kai? Da war eine Tante, ja. Eine kleine enge Wohnung mit Clowns und Puppen, die sich in jeder noch so kleinen Ecke breit machten, sodass man kaum einen Platz zum Sitzen fand. Zu wem gehörten die vielen vertrauten Gesichter, die er sah, wenn er die Augen schloss? Die er kannte, sich aber nicht entsinnen konnte, woher?
Ein Gesicht tauchte besonders häufig auf. Es war ein etwa dreizehnjähriger Junge, mit welligem rotem Haar, der einen kleinen Silberring im linken Ohr trug.
Dominik, dachte Ben. Dominik. Mit dem Namen wurde das Gesicht größer und deutlicher. Es bekam mehr Konturen und für einen Augenblick war Ben kurz davor, weitere Erinnerungen bloßzulegen. Doch dann verschwamm das Gesicht wieder, als wäre im letzten Moment ein Schalter in seinem Gehirn umgelegt worden, der genau das verhinderte.
Es ist tabu , schoss ihm durch den Kopf. Ich soll mich nicht erinnern .
Er wusste nicht, wieso er das dachte, es kam ihm einfach in den Sinn. Dann war auch dieser Gedanke verschwunden und zurück blieb nur das bedrückende Gefühl der Leere und Verlassenheit, das mit zunehmendem Tageslicht nicht ab- sondern zuzunehmen schien. Ben beschloss, dass es Zeit war, aufzubrechen. Er konnte nicht länger hier bleiben. Er musste sehen, dass er Antworten fand und er glaubte nicht, dass Sophie ihm dabei eine Hilfe sein konnte.
Wieder lief er zur Tür, lauschte und trat dann in den Flur hinaus. Vorsichtig klopfte er an die Küchentür und wunderte sich, als er tatsächlich eine leise Stimme dahinter hörte.
„Du brauchst nicht zu klopfen“, murmelte Sophie.
Die Tür war nur angelehnt. Sophie musste schon die ganze Zeit hier gesessen haben. Ben trat in den schmalen Raum und runzelte die Stirn. Sophies Kopf lag auf der Tischplatte. Die Arme hingen zu beiden Seiten kraftlos herunter. Als er eintrat, hob sie ihren Kopf ein winziges Stück und betrachtete ihn mit blassem, schweißbedecktem Gesicht. Ihre Haare klebten an Stirn und Nacken. Gleichzeitig hatte sie eine Gänsehaut und zitterte.
„Was ist mit dir?“, fragte Ben und trat auf sie zu. „Geht es dir nicht gut?“
„Mir geht’s blendend“, sagte Sophie heiser, aber ihr Sarkasmus verpuffte an der Kraftlosigkeit ihrer Stimme. „Ich brauche nur ein paar Tage Ruhe.“
„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Ben. Sophie verschränkte ihre Arme auf der Tischplatte und bettete ihren Kopf darauf. „Nicht nötig“, murmelte sie. „Ist sicher bloß eine Erkältung.“ Ben fand jedoch, dass sie nicht aussah, als hätte sie eine harmlose Erkältung. Sie sah aus wie jemand, der jeden Moment zusammenbricht. Außerdem schien sie weder Schnupfen noch Husten zu haben.
Ben nahm ein Glas aus dem abgenutzten Küchenschrank, füllte es mit Leitungswasser und stellte es auf den Tisch. „Ich muss weiter“, sagte er. „Aber vorher rufe ich dir einen Arzt.“
Sophie protestierte nicht, warf ihm nur einen kurzen zweifelnden Blick zu.
„Danke für alles“, sagte Ben.
Sie nickte schwach. Ben tätigte den Anruf und eilte aus der Wohnung.
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Die alte Frau sah sich gründlich im Zimmer um. Sie durfte nichts vergessen. Musste jede Spur verwischen, bevor sie ging. Sie blätterte noch einmal Ordner um Ordner durch, dann stellte sie sie in den Schrank zurück. Sauber. Sie war fertig. Die Daten auf ihrem Computer hatte sie schon vor langer Zeit gelöscht. Damit musste sie sich nun nicht mehr aufhalten. Vom vielen Bücken schmerzte ihr Rücken, doch sie beachtete den Schmerz kaum. Er war unwichtig. Bald würde sie ohnehin keinen Schmerz mehr spüren.
Ich bin alt geworden , dachte sie. Wenn ich noch länger warte, bringe ich uns in Gefahr .
Halb gebückt lief sie an der Küche vorbei, in der Maria immer noch die Fische im Aquarium beobachtete. Vormittags beschäftigte sich das Mädchen meistens
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