Götterdämmerung (German Edition)
dem Mann draußen am Gartenzaun war etwas kleiner und korpulent. Eva erkannte von ihrem Platz am Fenster aus, dass die Frau eine viel zu dünne Bluse und keine Jacke trug und fragte sich, wie lange sie es wohl derart gekleidet in der kalten Morgenluft aushalten würde. Anders als der Mann stand die Frau jedoch nicht reglos da. Sie lief unruhig hinter dem Zaun auf und ab.
Vielleicht will sie sich einfach nur aufwärmen , dachte Eva. Sie beobachtete, wie die Frau drei Schritte vorwärts ging, drei rückwärts. Dann noch einmal. Dann waren es fünf Schritte.
Eva zuckte zusammen, riss den Vorhang dabei ein kleines Stück zur Seite und presste die Stirn gegen das kühle Glas. Der Mann am Zaun hatte seinen Blick direkt auf sie gerichtet, aber Eva achtete nur auf die Frau, die ihre Strecke weiter ausdehnte. Zehn Schritte. Plötzlich blieb sie stehen und rüttelte am Gartenzaun.
Eva ließ den Vorhang los. Dann stürmte sie durch die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Daniel war nicht da, er hielt sich für ein paar Tage bei Freunden auf. Sie riss den erstbesten Koffer aus dem großen Wandschrank und warf wahllos Hosen, Röcke, T-Shirts und Unterwäsche hinein. Alles was sie sonst noch brauchte, konnte sie sich später besorgen. Der Koffer war für die wenigen Sachen viel zu groß, aber sie hatte jetzt keine Zeit, nach einer passenden Tasche zu suchen. Das dreidimensionale Spiegelbild bewegte sich synchron mit ihr. Eva warf ihm einen schnellen Blick zu, dann schleppte sie den Koffer die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, packte eilig noch einen Stapel elektronischer Fotokarten und ein paar Dokumente obendrauf – und verharrte. Sollte sie noch einmal nach draußen schauen? Sie holte tief Luft.
Nein , entschied sie. Es reicht. Sollen sie doch kommen. Ich verschwinde. Gleich nach Arbeitsschluss würde sie sich woanders einquartieren.
Während sie durch den Nebeneingang direkt zur Garage lief, versuchte sie Daniel zu erreichen. Er meldete sich nicht. Eva hinterließ ihm eine kurze Nachricht. Die Polizei wollte sie nicht rufen. Bis die hier wäre, konnte es dauern, sie befand sich schließlich in keiner akuten Gefahrenlage. Egal, was ihr Gefühl ihr sagte.
Was wollen die bloß von mir , fragte sie sich, während sie ihren Koffer ins Auto wuchtete. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und verriegelte sofort die Türen, obwohl der Wagen das normalerweise automatisch machte. Dann erst ließ Eva das Garagentor hochfahren. Der Wagen rollte leise nach draußen.
Der Wind hatte inzwischen nachgelassen. Dennoch drang sein Heulen gespenstisch durch die geschlossenen Scheiben. Blätter segelten auf die Windschutzscheibe. Auf der Straße lag ein großer Ast. Eva fuhr um das Hindernis herum, ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen. Und dann sah sie sie.
Die beiden Gestalten waren um das Haus herumgelaufen und kamen nun auf das Fahrzeug zu. Sie mussten mitbekommen haben, was sie vorhatte. Eva beschleunigte. Sie bemerkte, dass die Frau ihr zuwinkte und der Mann etwas rief. Sie verstand nicht, was es war und öffnete das Fenster einen Spalt. Dann hörte sie ihren Namen.
„Eva, bleib hier!“, rief der Mann. Und die Frau stimmte ein. „Fahr nicht weg, Eva! Eva!“
Hastig schloss sie das Fenster, wischte sich die schweißnassen Hände an ihrer Hose ab und jagte davon.
•
Ben erwachte durch das gleichförmige Summen einer Überwachungssonde vor dem Fenster. Noch halb im Schlaf zog er sich die Decke über den Kopf und rollte sich darunter zusammen, bis das Geräusch verschwunden war. Dann stand er auf und lief barfuß zum Fenster. Der Strand leuchtete jetzt golden unter einer halb hinter Palmen versteckten Sonne. Schaum schwamm auf den sich geräuschlos brechenden künstlichen Wellen, die über Nacht Muscheln und zinnoberrote Schneckenhäuser ans Ufer gespült hatten. Nach draußen konnte er auch jetzt nicht sehen.
Er unterdrückte den Drang, das Fenster aufzureißen und ging stattdessen zur Tür, wo er stehen blieb. Sollte er warten, bis Sophie auftauchte oder lieber verschwinden? Unsicher sah er an sich herunter und musterte die neuen Kleidungsstücke. Er lief ins Bad und packte seine schmutzigen Sachen in eine Plastiktüte, die zufällig herumlag. In der Wohnung war alles still. Keine Anzeichen dafür, dass Sophie schon aufgestanden war.
Ben ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute. Seine Finger trommelten nervös auf dem Tisch, wo noch das leere Glas von gestern
Weitere Kostenlose Bücher