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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Schwarzer
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Fremde – dieser Kai – die Stadt ebenfalls so gut kannte, dann musste er nicht weit reisen, um ihn zu suchen. Er würde hier in der Stadt sein! Das war zumindest wahrscheinlich.
    In Gedanken ging er alle Möglichkeiten durch: Vielleicht war Kai gar kein Fremder, sondern er selbst mit einem anderen Namen. Er könnte irgendwann umbenannt worden sein und hatte seine Erinnerungen einfach unter zwei verschiedenen Namen abgelegt. Oder er hatte einen Zwillingsbruder. Darüber, wie nahe Zwillinge sich standen, gab es schließlich die verblüffendsten Studien. Oder Kai war ein Freund, an den er sich aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen nicht mehr erinnerte – dafür aber an alles, was sie zusammen erlebt hatten? Oder aber – und das war die verrückteste Erklärung – er war ein Wirt und beherbergte eine Art Symbiont in seinem Körper so wie die Frau in dieser uralten Science-Fiction-Serie, die seine Eltern manchmal mit ihm gesehen hatten. Bloß, wer sollte ihm einen Symbionten eingepflanzt haben, ohne dass er es merkte? Nein, das war verrückt. Keine der Möglichkeiten, die er durchging, erklärte dieses Rätsel zufriedenstellend.
    Ben hörte ein Geräusch am Himmel. Angespannt hob er den Kopf und suchte nach der Quelle. Als er bemerkte, dass es sich um ein gewöhnliches Flugzeug handelte und nicht um eine Drohne, lief er erleichtert weiter. Das Flugzeug erinnerte ihn daran, dass er sich für die Nacht einen neuen Unterschlupf würde suchen müssen. Ben verzog den Mund. Toll. Es war gerade später Vormittag und er dachte an nichts anderes als an ein Versteck für die Nacht. Wie lange sollte das noch so gehen?
    Nur noch ein paar Tage , gab er sich die Antwort. Bis er noch etwas mehr über diesen Kai in Erfahrung gebracht hatte. Wenn ihm das nicht gelang, musste er es vielleicht doch riskieren, in die Villa zurückzukehren. Er brauchte Geld. Ben spielte sogar mit dem Gedanken, sich der Polizei zu stellen, auch wenn sein Vater ihn eindringlich davor gewarnt hatte. Wenn du die Polizei rufst, machst du alles nur noch schlimmer, hörte er ihn sagen, die Stimme schneidend scharf. Hast du das verstanden?
    Er schluckte. Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden? Was war seine Freiheit wert, wenn sie vor allem Unsicherheit, Einsamkeit und Furcht bedeutete? Was war das für ein Leben, wenn man sich nirgends sicher fühlte, sondern jederzeit und überall verfolgt? Wenn man bereit war, in das nächstbeste Rattenloch zu klettern, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben? Ben wollte sich die fremden Sachen vom Leib reißen, ein Bad nehmen und sich die Bettdecke über die Ohren ziehen. Und schlafen, tief wie ein Bär in einer Winternacht, und wenn er schließlich aufwachte, würde er über den Alptraum den Kopf schütteln und ihn nie, niemals erwähnen, damit er so schnell wie möglich verblassen konnte.
    Wenn er sich der Polizei stellte, würde die ihn verhören. Aber er hatte schließlich nichts getan. Sie mussten ihn laufen lassen, auch wenn er sich nicht ausweisen konnte. Oder? Niemand konnte ihm etwas anhängen. Aber natürlich würde die Polizei ihn nicht so einfach in die Villa seiner Eltern lassen. Vielleicht musste er sogar ein paar Tage in einem der berüchtigten Gefängnisse tief unter der Erde ausharren. Ben erschauderte. Auf gar keinen Fall! Das würde er nicht ertragen.
    Er wechselte die Straßenseite, um einer Baustelle auszuweichen. Ein Mann kam ihm entgegen und ohne groß darüber nachzudenken, sprach Ben ihn an. „Guten Tag“, sagte er. Seine Stimme klang eigenartig erwachsen. „Dass ich Sie hier treffe! Wollten Sie nicht umziehen?“
    Er kannte den Mann, hatte ihn gleich erkannt, obwohl er viel älter aussah als Ben ihn in Erinnerung hatte. Die Falten um den Mund waren damals noch nicht gewesen als …
    Er sah sich dem Mann gegenüber sitzen. Jeder von ihnen an einem Schreibtisch, auf einem Bürodrehstuhl. Das Bild war verschwommen, als hätte Ben mehrere dünne Schichten Papier übereinander gelegt und versuchte nun, durch die Schichten hindurchzuschauen. In Gedanken zog er Blatt um Blatt vom Stapel und das Bild veränderte sich. Manchmal erzählte ihm der Mann etwas, manchmal stand er irgendwo im Zimmer, dann wechselte er seine Position. Manchmal arbeitete er an seinem Computer, manchmal hielt er einen Stift oder einen Hamburger in der Hand. Er hatte eine Schwäche für Fast Food, die man ihm jedoch nicht ansah, von gelegentlichen Fettflecken auf dem Hemd einmal abgesehen.
    Als Ben in Gedanken die

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