Götterdämmerung (German Edition)
Ben vom Fenster aus, dass der Himmel voller Sterne war. Viel mehr, als sich in der Stadt finden ließen.
Vor einer Stunde war noch einmal ein Auto angekommen, hatte seine Insassen – ein Paar im mittleren Alter und ein etwa zehnjähriges Kind – ausgespuckt und war dann um die Ecke verschwunden. Ben hörte, wie das Kind auf dem Flur nach Max rief und erkannte die kräftige Stimme des alten Mannes, der es lautstark begrüßte. Dann entfernten sich die Stimmen. Die Schritte auf dem Flur verhallten und es war wieder ruhig. Seitdem war nichts Nennenswertes mehr passiert.
Ben hatte den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer verbracht, allein mit seiner Verwirrung und seiner Trauer. Zara hatte zweimal an seine Tür geklopft, auch Monica und Max hatten nach ihm gefragt, aber Ben wollte eine Weile allein sein und seine Gedanken ordnen, was sie akzeptierten.
Jetzt lag er auf dem großen Bett in der Mitte des Zimmers und starrte an die von Tüchern verhüllte Decke. Das Zimmer war riesig und wirkte elegant mit seinem Dielenboden, den Stofftapeten und den goldgerahmten Gemälden, die allesamt Jagdszenen zeigten. Langweilig. Ansonsten war das Zimmer recht karg eingerichtet. Abgesehen von dem riesigen Bett, gab es lediglich einen winzigen Tisch vor einem der Fenster mit zwei dazu passenden Stühlen, auf die Ben sich kaum zu setzen wagte, weil sie so zerbrechlich wirkten. Ein Kronleuchter warf funkelnd weißes Licht in die leeren Ecken des Zimmers.
Der Junge zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Er wollte so gerne schlafen. Wenn er nur ein paar Stunden Schlaf fände, würde er sich besser fühlen. Das Licht ließ er an. Er dachte an den Strand, den er auf dem Bild in Sophies Wohnung gesehen hatte und stellte sich vor, er läge im warmen Sand. Eine leichte Brise wehte und brachte den Geruch von Bougainvillea und Salzwasser mit. Einen Moment lang glaubte er, den Sand unter seinen Händen zu spüren und hörte das Rauschen der Wellen, die sich bis an seine Zehenspitzen heranschoben. Er war allein, aber nicht verlassen. Dann drängten sich die Schatten der Männer, die ihn verfolgt hatten, in seinen Traum.
Ben öffnete die Augen und setzte sich auf. Er wollte nicht an die Männer denken. Nicht jetzt. Doch obwohl er die Augen offen hielt und versuchte, sich auf das Zimmer zu konzentrieren, in dem er sich befand, gelang es ihm nicht, die Bilder loszuwerden. Er spürte die Bedrohung, die von den Fremden ausging in diesem Augenblick genauso deutlich wie vor zwei Tagen, als sein Alptraum angefangen hatte.
Ben stöhnte und zog die Bettdecke über sein Gesicht, fühlte sich jedoch kein bisschen besser. Er schlug die Decke zurück und holte tief Luft. Hastig sprang er auf und betrachtete, um sich abzulenken, die Gemälde an der Wand. Reiter auf schwarzen Pferden. Ein Wald. Rotbraune Jagdhunde, die um die Reiter herumsprangen und bellten. Einer der Reiter hatte entfernte Ähnlichkeit mit dem Krankenpfleger, der ihn in die Kammer gesperrt hatte.
„Hau bloß ab!“, knurrte Ben und wandte sich von den Gemälden ab.
Er lief wieder zum Fenster, betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe und versuchte, sich zu entsinnen, wie er früher ausgesehen hatte. Damals als seine Welt noch überschaubar gewesen war. Er stellte sich vor, wie er mit der Zahnbürste in der Hand vor dem Waschbecken stand und Grimassen schnitt. Das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel heraus angrinste, wirkte lebhaft und lebendig. Das Gesicht in der Fensterscheibe tat das nicht. Es könnte traurig aussehen oder verstört. Oder zornig, auch das. Aber die Wahrheit war, dass es überhaupt nichts ausdrückte. Es passte nicht zu dem, was Ben fühlte.
Er kniff die Augen zusammen, bleckte die Zähne und runzelte die Stirn. Jetzt veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht, aber es wirkte aufgesetzt. Wie bei einem Laiendarsteller.
Ben dachte an seine Eltern. Sofort spürte er die Traurigkeit, die ihn übermannte und die er jetzt zum ersten Mal wirklich zuließ. In seinen Ohren hallte ein Schuss, viel lauter als er in Wirklichkeit gewesen war und er befand sich wieder im Garten der Villa und sah sich verzweifelt auf dem Boden neben seiner Mutter sitzen und den Notarzt rufen.
Er fühlte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und wieder betrachtete er sein Spiegelbild. Er sah keine Tränen.
Er trat von der Fensterscheibe zurück und rieb sich die Augen. Sie waren trocken. Keine Tränen. Entsetzt starrte Ben auf das Fenster. Er konnte sich das alles doch
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