Götterdämmerung (German Edition)
mit steifen, ungelenken Schritten über die Gräber hinweg und bei jedem Grab fragte sie sich, wer sich wohl hinter dem in Granit gemeißelten Namen verbarg, bis die Gräber aufhörten, Namen zu tragen.
„Ich helfe dir“, sagte sie und blinzelte, um die aufkommenden Tränen zu bekämpfen. „Aber wenn du fertig bist, informiere ich die Öffentlichkeit.“
Eisenberg klopfte ihr mit gespielter Zustimmung auf die Schultern und ließ seine Hände dann sinken.
„Ich weiß das zu schätzen“, sagte er. Den Weg zu seinem Büro legten sie schweigend zurück.
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Maria hörte ihre eigenen Schreie so laut, dass sie sich unwillkürlich die Ohren zuhielt. Kinderschreie. Wutschreie. Dann die Versöhnung. Eine warme Hand, die ihr über den Kopf strich und am Hals kitzelte. Sie roch den Mix aus gebratenen Würstchen und Grünkohl, der durch die ganze Wohnung zog und sich in jeder Ecke festsetzte und das billige Parfüm ihrer Mutter. Das hatte sie immer gemocht – im Gegensatz zu Grünkohl. Im Hintergrund lief eine CD mit italienischen Schlagern. Die meisten kannte sie auswendig. So viele Jahre waren vergangen und sie konnte sich an jedes einzelne Lied erinnern. An jedes einzelne Wort! Irgendetwas in ihr hatte die Erinnerung daran geweckt. Sie sah die kleine enge Wohnung so klar, als würde sie ein Foto betrachten. Fühlte noch die Wuttränen, die auf ihrem Gesicht trockneten. Erinnerungen. Für immer gespeichert, abgerufen und neu geladen.
Sie richtete sich ein wenig auf und wartete auf die nächsten Bilder, neuere Erinnerungen, die die alten bisher überlagert und zum Teil vergessen gemacht hatten, aber diesmal einen separaten Platz in ihrem Gedächtnisspeicher bekommen würden. Sie würde nie wieder etwas vergessen. Nie wieder überlegen, wie ein Name lautete oder was in dem Buch passiert war, das sie sich ausgeliehen hatte. Kein Gedicht mehr vergessen und keine Formel. Keine Kränkung und kein Kompliment.
Die Fülle an Erinnerungen ängstigte Maria nicht. Sie fühlte sich stark. Grenzenlos stark. In gewisser Weise wie neugeboren. Dabei war der Prozess noch längst nicht abgeschlossen. Sie würde voranschreiten, durch die Jahre wandern wie in einem Zeitstrahl, bis sie bei ihrem wahren Alter angekommen wäre und sich an alles erinnerte. Alles verstand. Wie viele Bilder fehlten noch? Wie viele Bilder beinhaltete ein einziger Tag? Ein ganzes Jahr?
Geburtstag. Papageienkuchen. Den mochte sie zwar, aber eigentlich hatte sie sich Schokoladenkuchen gewünscht. Vier Kerzen, die von ihrer Tante ausgeblasen wurden und nicht von ihr, was sie fürchterlich betrübte. Aber das riesige Plüschpferd mit den schiefen Zähnen tröstete sie. Sie bot ihm ein Stück Würfelzucker an, das sie heimlich aus der Dose genommen hatte. Leslie. So hatte sie das Pferd getauft, weil es genauso schiefe Zähne hatte wie die Leslie, die in der Wohnung schräg unter ihr wohnte.
Maria seufzte und streckte die Hände aus, um Leslie zu greifen und zu umschließen, aber ihre Hände stießen nur an den harten Badezimmerschrank, hinter dem sie immer noch kauerte, wenn auch nicht mehr so verspannt. Sie vermisste ihr Plüschpferd, mit dem sie so viele Jahre geteilt hatte, aber sie wusste auch, dass sie die Erinnerung an Leslie jederzeit hervorholen konnte und dass sie so real und überwältigend war wie das echte Erleben.
Noch mehr Bilder. Geräusche. Gerüche. Gefühle. Freude und Trauer rangen in ihr miteinander. Freude darüber, all diese halb vergessenen Dinge neu erleben zu dürfen, Trauer, dass es sich doch nur um Erinnerungen handelte.
Sie kroch aus ihrer Ecke, in der sie gekauert hatte und sah das Badezimmer mit fremden Augen. Ich lebe , dachte sie plötzlich. Dieser Gedanke verwunderte sie, weil er aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Da war noch etwas in ihr, isoliert von den unzähligen Bildern, das die komplizierten Prozesse überwachte.
Du wirst es bald verstehen , meldete sich die Stimme wieder.
Maria lächelte, lehnte sich an die Badewanne und schloss die Augen, um die Bilder, die immer weiter auf sie einströmten, ganz und gar zu genießen. Jeden Moment ihres Lebens noch einmal auszukosten.
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Als Eisenberg, gefolgt von Nadja, die Tür zu seinem abgegrenzten Bürobereich öffnete, kam ihm seine Sekretärin entgegengelaufen.
„Da ist ein Polizist“, flüsterte sie und wies auf die offen stehende Tür seines Büros. „Ich habe ihm gesagt, er solle draußen warten, aber er ist einfach reingegangen und rührt sich
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