Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
helfen versuchte.«
»Was nur könnten Sie meinen?« Sich aufbäumen gehörte nicht zu ihren Stärken. Es zuckte um ihre Mundwinkel. Sie blinzelte, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, blätterte durch die Seiten ihres Romans. Doch dann klappte sie das Buch zu und legte es beiseite.
»Zeigen Sie’s mir«, sagte sie.
»Ich glaube, das ist keine gute Idee, Ma’am. Die Polizei wird sich darum kümmern.«
»Polizei? Ich will keine Polizei. Die Polizei kommt nie hierher. Was sollte ich den Nachbarn sagen? Wir sind angesehene Leute.«
Sie stand auf und ging zur Abstellkammer, zögerte, dann öffnete sie die Tür und ging hinein. Ich folgte ihr die knarrenden Stufen hinunter.
»Es ist schlimm, Ma’am. Sie sollten da nicht hinuntergehen«, sagte ich.
Sie schien mich nicht zu hören. Vorsichtig stieg sie die Treppe hinunter, machte einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen.
»Ich bin nie hier unten gewesen«, sagte sie. »Nicht seit Stefans junge Männer den Keller für die Wohltätigkeitsarbeit umgebaut haben.«
Sie ging zu Selbiades und sah hinunter auf ihn, betrachtete ihn mit distanziertem Interesse, als betrachte sie eine außergewöhnliche Blume in ihrem Garten. Für Hector hatte sie keinen Blick übrig. Plötzlich straffte sich ihr Gesicht. »Ich hab es dir gesagt! Ich hab es dir gesagt, Stefan!«, rief sie mit fester und überraschend tiefer Stimme. Doch diese Haltung konnte sie nicht lange wahren. Ich sah, wie ihre Augenlider flatterten. Sie griff nach meinem Arm und stützte sich darauf. »Entschuldigung«, sagte sie, »aber das alles scheint … zu viel.« Ihre Lippen zuckten und die schlaffen Wangen erzitterten bei dem Versuch, das gewohnte Dauerlächeln zurückzugewinnen.
»Es ist so … unwirklich.«
»Unwirklicher als unwirklich«, sagte ich mechanisch, des Wahnsinns — ihres Wahnsinns und des Wahnsinns der Welt — überdrüssig.
»Ich meine, natürlich, es ist wirklich, aber irgendwie … «
»Unwirklich«, sagte ich und beendete ihren Gedanken, der im Grunde kein Gedanke war, sondern der missratene Versuch eines solchen.
»Sie glauben wohl, ich stehe unter Schock«, sagte sie.
»Das wäre durchaus möglich, Ma’am.«
Sie grinste mich an, mit einem Anflug von Koketterie. »Nun, ich bin es ganz und gar nicht! Ich bin völlig gefasst«, sagte sie und legte einen Finger auf den Mund, als wolle sie einen Pakt des Schweigens mit mir schließen.
Wir gingen die Treppe hoch. Zuerst schaltete sie den Herd ab, dann setzte sie sich an den Küchentisch und schlug ihr Buch auf. Doch sie begann nicht zu lesen, sondern starrte versonnen vor sich hin.
»So etwas musste ja geschehen«, sagte sie. »Es kommt nicht völlig unerwartet. Menschen, die am meisten der Hilfe bedürfen, sind oft die undankbarsten.«
»Das passiert sehr häufig«, sagte ich. Sie sah mich an, als wäre ich ein Fremder, der plötzlich in ihrer Küche aufgetaucht war.
»Junger Mann, würden Sie bitte in den Garten gehen und Stefan sagen, er möge ins Haus kommen. Ich habe ihm hundertmal erklärt, dass er nicht ohne seine Mütze hinausgehen soll. Man sollte meinen, ein Dermatologe wüsste es besser.«
Sie schlug ihr Buch auf und begann zu lesen.
Ich machte mich auf die Suche nach einem Telefon und fand es in der Bibliothek, die neben dem Wohnzimmer lag, wählte den Notruf, nannte die Adresse und meldete einen Mord und einen Selbstmord, nannte jedoch nicht meinen Namen. Ich wollte sicherstellen, dass die Polizei eintraf, bevor ein Kommando die Möglichkeit bekam, alle Spuren zu beseitigen und die Leichen in der Wüste zu verscharren. Anschließend griff ich mir einen Notizblock und schrieb: Das hier ist Hector Martinez, polizeilich gesucht in Arizona, New Mexico und Texas. Er wurde von Dr. Stefan Selbiades sexuell verstümmelt, aus Rache für die Erschießung von Selbiades’ Sohn. Das Videoband beweist, dass der tödliche Schuss ein Unfall war und Martinez versucht hat, das Leben des Jungen zu retten.
Ich ging zurück in den Keller und platzierte den Zettel neben Hector. Dann zog ich die Kassette aus Selbiades’ Jackentasche und legte sie auf den Zettel. Ich blieb noch einen Augenblick und sah hinunter auf die beiden Leichen. Es gibt Momente, da befallen mich religiöse Anwandlungen. Ein solcher Moment war jetzt gekommen.
»Qué la vaya bien, compa« — gute Reise, Kumpel. Das galt Hector.
Selbiades wünschte ich den tiefsten Kreis der Hölle: »Mögen geile Teufel dich reiten, bis deine Knochen zu Staub zerfallen.«
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