Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
sagte ich.
»Sie stammt aus einer Epoche, als der Minutenzeiger noch nicht den Takt vorgab für das Leben der Menschen.«
Eine Frau betrat das Zimmer. Wie Selbiades war auch sie bereits stark ergraut, jedoch nicht so schlank wie er. Ihre Art zu lächeln erweckte den Anschein, als wäre dies der einzige Gesichtsausdruck, den sie sich gestattete. Der Blick ihrer trüben blauen Augen schien von allem entkoppelt zu sein, was einem Denkprozess nahekam.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte sie. »Wir haben schwarzen und grünen Tee. Wir haben Orange Pekoe. Wir haben Gunpowder und wir haben auch weißen.«
»Jetzt nicht, meine Liebe«, sagte Selbiades. »Der Gentleman und ich haben etwas Geschäftliches zu besprechen.«
Die lächelnde Frau neigte den Kopf leicht zur Seite, ein Versuch, Gehirnaktivität vorzutäuschen.
»Oh? Ist der Gentleman ein Kollege?«
»Nein. Er ist Prospektor«, sagte Selbiades.
Sie gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und zog sich zurück.
»Sie denken, es geht mir ums Geld?«
»Geld ist für gewöhnlich die Wurzel aller törichten Vorhaben.«
»Ich will Hector Martinez«, sagte ich. »Übergeben Sie ihn mir und ich lass Sie in Ruhe.«
»Sie setzen sich dem ganzen Ärger aus, nur um dieser verrückten Frau aus El Paso gefällig zu sein?«
»Scheint so«, sagte ich.
»Sicher sind Sie sich nicht? In Ihnen brennt nicht die Leidenschaft für die Sache, was auch immer man darunter zu verstehen hat?«
»Nein. Leute wie Sie kotzen mich einfach an. Wenn mich was ankotzt, laufe ich zur Höchstform auf. Mich kotzt was an und das gibt mir ein Gefühl von Identität. Mich kotzt was an, also bin ich.«
»Ah, sehr gut. Eine etwas andere Sicht auf Descartes. Sie wären ein guter Kommandosoldat, Sir. Was müsste ich tun, um Sie für unsere Brigade zu begeistern? Wir brauchen zornige, junge Männer, gut ausgebildete und fähige junge Männer. Zu viele unserer Rekruten sind einfach nur zornig und haben darüber hinaus wenig aufzuweisen, was für sie spräche. Gelänge es mir doch nur, dass Sie die Welt aus meiner Perspektive betrachten! Unsere Grenzen sind von Geschwüren befallen, Mr. Morgan, das können Sie nicht leugnen. Unsere Grenzen bedürfen der unverzüglichen Heilung. Helfen Sie mir dabei. Helfen Sie mir, die offenen Geschwüre zu schließen, die es ermöglichen, dass Schmutz in den Körper eindringt. Ich ernenne Sie zum Stabschef, Sir. Das brächte Ihnen fünfzigtausend im Jahr, plus Zulagen und Urlaub.«
»Und was ist mit der Altersversorgung?«
»Sie machen sich über mich lustig. Doch bedenken Sie eines: Sie leben in den Tag hinein, sind ein Einzelgänger, frönen dem Müßiggang. Ihnen mangelt es an einer verlässlichen Grundlage — sei es in Fragen der Überzeugung oder in wirtschaftlicher Hinsicht. Das wird Ihnen in späteren Jahren auf die Füße fallen. Ein Mann muss für etwas einstehen, wenn er nicht als Versager in sein Grab kriechen will. Sie sehen einer wenig würdevollen Zukunft entgegen, Mr. Morgan. Ich biete Ihnen eine Art Rettungsring. Bekennen Sie sich zu etwas, Mann! Bekennen Sie sich zu uns!«
»Ich geb’s auf«, sagte ich. »Hector Martinez, Doc. Bringen Sie mich jetzt zu ihm.«
Selbiades zuckte mit den Achseln. Seine Miene drückte Verärgerung aus. »Dann folgen Sie mir. Mit ihm bin ich fertig.«
Er führte mich einen Flur entlang und dann in die Küche. Seine Frau saß an einem kleinen Tisch und las ein Buch. Bei unserem Eintreten blickte sie auf, das starre Lächeln an seinem Platze. »Ich habe Wasser im Kessel«, sagte sie. »Man muss auf das Pfeifen achten.« Dann wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu.
Selbiades öffnete die Tür zu einer Abstellkammer und ging hinein. Ich folgte ihm. Im hinteren Bereich der Kammer befand sich eine weitere, niedrigere Tür — beim Hindurchgehen musste ich den Kopf einziehen. Hinter dieser Tür lag eine Treppe, die in den Keller führte. Selbiades schaltete das Licht an. Ich stieg hinter ihm die Treppe hinunter und fand mich in einem hell erleuchteten Raum wieder.
»Ihr berühmter Folterkeller?«, fragte ich.
»Ein roher Ausdruck. Ich ziehe es vor, ihn als Selektionsbereich zu bezeichnen.«
Boden und Wände des Raums waren weiß gefliest. Im Boden befand sich ein Abfluss, was darauf schließen ließ, dass der Raum gelegentlich abgespritzt wurde.
In der Mitte dann ein Operationstisch, darüber spezielle OP-Leuchten und entlang der Wände Schränke mit Glastüren, darin chirurgische Instrumente, alle akkurat
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