Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
Vom Netzwerk:
in das rechte Auge. Die Kugel musste auf einen Knochen der Augenhöhle getroffen sein, wurde abgelenkt und trat nicht am Hinterkopf aus, sondern am linken Ohr, zusammen mit der Hälfte des Schädelinhalts. Zum Schluss gab Hector hintereinander drei Schüsse auf den Oberkörper des Arztes ab und steppte eine blutige Naht in dessen Brust.
    Hectors Blick streifte mich nur flüchtig. »Danke für deine Mühe, compa .« Die Stimme klang heiser, aber es war die Stimme eines Mannes. »Sag Carlita, dass ich sie geliebt habe.« Mit diesen Worten setzte er sich die Waffe an den Kopf und drückte ab. Im selben Moment hob oben in der Küche das Pfeifen des Teekessels an.

46
    Ich ging nach oben. Der Teekessel pfiff noch immer zum Schichtwechsel bei General Motors und Mrs. Selbiades saß noch immer über ihrem Buch. Ich setzte mich ihr gegenüber. Sie schien es nicht zu bemerken.
    »Ich habe leider schlechte Neuigkeiten für Sie, Ma’am«, sagte ich. Sie sah nicht auf. Ihre Augen klebten förmlich an den Buchstaben auf der Seite.
    Ich schlug eine andere Richtung ein. »Wer gewinnt denn?«, fragte ich.
    »Wie bitte?« Jetzt hatte sie offenbar die Gegenwart einer anderen Person wahrgenommen.
    »Das Gute oder das Böse?«
    Sie sah mich verwirrt an. Es sprach einiges dafür, dass sie die Schüsse nicht gehört hatte — oder nicht hatte hören wollen. Vielleicht hatte sie genug aus Selbiades’ kleinem Horrorladen mitbekommen und sich antrainiert, es zu überhören. So wie Menschen, die in der Nähe eines Flughafens wohnen, den Lärm der Maschinen ausblenden. Gut möglich, dass der pfeifende Kessel als Mittel zum Zweck diente. Was auch immer es war, die Frau hatte sich eine Parallelwelt geschaffen und schien entschlossen, darin zu verharren.
    »Es geht niemals darum, wer gewinnt«, sagte sie und klappte das Buch zu. Ich beugte mich hinüber und drehte den Kopf ein wenig, um einen Blick auf den Einband zu erhaschen. Die Gestaltung war grell und sensationslüstern. Ein muskelbepackter Pirat war im Begriff, eine vollbusige Schönheit an Bord seines Schiffes zu verschleppen, der das auch noch zu gefallen schien. »Ah, Der Scharlachrote Rächer. Nun, Mrs. Selbiades«, ich nahm den Faden wieder auf, »wenn es nicht darum geht, wer gewinnt, worum geht es dann?«
    »Es geht immer darum, das Gute in Menschen zu entdecken, von denen man nie erwartet hat, dass sie gut sind. Am Ende gewinnt ein jeder, weil die Liebe über alles triumphiert.«
    »Das Böse hat also keine Chance?«
    »Es ist nichts Reales, wissen Sie. Wenn Menschen einander nicht verstehen, das ist das Böse.«
    »Dann danken Sie Gott für diese Liebesromane«, sagte ich.
    »Oh, das tue ich. Möchten Sie jetzt einen Tee?«
    »Einen munteren kleinen Kessel, den Sie da haben, Ma’am.«
    »Ich trinke meinen Tee immer dann, wenn Stefan mit diesen armen Menschen, denen er so sehr zu helfen versucht, in den Keller geht. Nun, junger Mann, Orange Pekoe? Earl Grey? Ich habe einen sehr schönen aus Java. Vielleicht bevorzugen Sie ja Kräutertee? Wie wäre es mit Kamille?«
    Meine Hände zitterten ein wenig. Ein Tequila wäre willkommen gewesen, doch ich ging davon aus, dass der sich nicht im Angebot befand.
    »Ich komme darauf zurück, Ma’am«, sagte ich. Sie sah mich an, als warte sie auf etwas. Es entwickelte sich ein seltsames Bindeglied zwischen uns, das ich nicht ignorieren konnte. »Das mit Ihrem Sohn tut mir leid, Mrs. Selbiades.«
    »Willy? Oh, es geht ihm gut. Da gibt es nichts, was Ihnen leid tun müsste. Er verbringt ein Semester auf See. Hängt immer oben in der Takelage eines Dreimasters, der La Paloma Blanca, die vor der Nordküste Neuseelands kreuzt. Ich sehe seine schönen grauen Augen vor mir, wie sie den Horizont nach Land absuchen. Wenn er zurückkommt, werde ich nicht mehr da sein, aber er wird zurückkommen.«
    »Wie MacArthur auf die Philippinen«, sagte ich.
    »Nein. Wie Rhett Butler nach Tara.«
    Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu. Liebesromane und Tagträume, die ihr über den Kummer hinweghalfen. Mehr Kummer erwartete sie, doch auch den würde sie überstehen, weil in ihrer Welt alles nur auf einem Missverständnis beruhte, das sich irgendwann aufklärte. Die Dinge wären dann wieder so, wie sie zu sein hatten.
    »Sie sollten nicht in den Keller gehen, Ma’am«, sagte ich. »Es hat einen Unfall gegeben.«
    Sie sah mich verwundert an. »Einen Unfall?«
    »Ihr Mann. Ich fürchte, er ist von einem jener armen Menschen erschossen worden, denen er so sehr zu

Weitere Kostenlose Bücher