Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
das FBI genauso interessieren wie das State Department.«
Ich steckte alles zurück in den Umschlag und befestigte ihn an der Rückseite der nackten Damen beim Nachmittagstee. Nachdem das Gemälde wieder an seinem Platz hing, machte ich mich auf den Weg nach unten. Luther kam aus dem Wintergarten, seinen Notizblock in der Hand. Er hatte sich etwas angezogen, geblümte Bermudas und Sportschuhe.
»Hör dir das an, J.P.«, sagte er. »Ich übersetze aus dem deutschen Text: Adolf und Richard, die es sich vor dem knisternden Kaminfeuer in Hitlers Berchtesgadener Refugium bequem gemacht hatten, sprachen leise, aber aufgeregt miteinander. ›Ich brauche etwas‹, sagte Adolf. ›Etwas, äh … was mich aufrichtet, wenn Sie verstehen, was ich meine, Richard.‹ In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort, betrat Dr. Theodor Morell den Raum und nachdem er Wagner und Hitler gebeten hatte, die Hosen herunterzulassen, injizierte er beiden eine Dosis eines clevererweise ›Vitamultin‹ genannten Präparats in die Hinterbacken — ein starkes Amphetamin. Anschließend gab er ihnen einen Vitamincocktail zu trinken.«
»Ich will ja nicht nerven, Luther«, sagte ich, »aber ich sehe einfach nicht, wie du Hitler und Wagner in ein und demselben Raum auftreten lassen kannst, und auch nicht in einem Buch.«
»Ich weiß, es kommt einer Strafe gleich, J.P., aber versuche doch, es zu verstehen. Literatur ist keine Literatur, wenn sie nicht die Freiheit genießt, neue Impulse zu verarbeiten, und zwar ohne Rücksicht auf die durch konventionelle Erzählstrukturen auferlegten Beschränkungen oder jedwede andere Beschränkung. Ich stelle mich der Herausforderung, das Erwartete zu transzendieren und zu transformieren. So wird Hitler Wagner bitten, eine neue Nationalhymne für das Dritte Reich zu komponieren — nicht um ›Deutschland, Deutschland über alles‹ zu ersetzen, nein, um es mit symphonischen Effekten anzureichern und letztendlich zu erhöhen. Wagner wird sich dazu bereit erklären.«
»Jetzt begreife ich«, sagte ich. »Hitler channelt Wagner.«
»Nein, tut er nicht.« Luther blätterte eine Seite um und fing wieder an vorzulesen: »Adolf gab Richard einige ovale Pillen. ›Das ist Pervitin‹, sagte der Führer. ›Die werden Ihr Verlangen, etwas zu erschaffen, stimulieren. In mir reifte der Plan für die Invasion in Russland, nachdem ich mehrere davon genommen hatte‹. Hitler griff nach einem Bajonett und betrachtete es liebevoll. ›Was ist in diesen Tabletten?‹, wollte Wagner wissen. ›Fragen Sie nicht danach, mein lieber Richard‹, sagte Hitler und stach spielerisch mit dem Bajonett in Wagners Bauch. ›Ich weiß nur, dass sie den Verstand entflammen! Sie werden sich in meine kleinen ovalen Tabletten verlieben!‹«
Luther wartete darauf, dass ich seinem Genie applaudierte.
»Grandios«, sagte ich. »Wagner ein Speedfreak. Klingt einleuchtend.« Ich wechselte das Thema. »Lust auf eine kleine Spritztour? Ich meine, wenn du fertig bist mit Meditieren.«
»Ja. Ich fühle mich zwar unwohl, aber ich denke, das liegt daran, dass ich ans Haus gefesselt war seit … dieser Episode. Wen legen wir heute um?«
»Niemanden, hoffe ich.«
Lelanie, die sich bisher zurückgehalten hatte, baute sich neben Luther auf. »Geh nicht mit, Luther-Baby. Ihm fehlt der Sinn für deinen Zustand.«
»Das weiß ich, Schätzchen«, sagte Luther. »Deshalb ist mir an seiner Freundschaft so gelegen.«
Lelanie stampfte wütend mit ihrem kleinen Fuß auf. »Das ist doch vollkommener Unfug, Zuckerkuchen!«, rief sie.
Luthers Hand wanderte unter den Kimono. Er küsste Lelanie. »Du gehst jetzt nach oben und kriechst ins Bett. Und bevor du dich versiehst, ist dein Zuckerkuchen wieder da.«
»Zuckerkuchen«, sagte ich, als wir in meinem Wagen saßen.
»Orale Fixierung. Wenn sie an mich denkt, dann immer unter der Rubrik ›Nahrungsaufnahme‹. Sie ist eine verkappte Kannibalin.«
»Vermutlich hat sie eine Menge su und asti.«
»Zumindest einen unstillbaren Hunger«, sagte Luther mit einem anzüglichen Grinsen.
38
Ich machte keinen Zwischenstopp am Union Depot. Nicht um alles in der Welt wollte ich einen Karton mit einer halben Million Dollar über die Grenze bringen. Sollte Hector tatsächlich in Juárez sein, würden wir eine andere, eine sichere Form der Geldübergabe verabreden.
Ich fuhr zur Bridge of the Americas, die den Rio Grande in Richtung Ost-Juárez überspannte.
»Machte es dir etwas aus, mir zu verraten, wohin es geht?«,
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