Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
Thema. »Laut deinen Unterlagen ist Selbiades ein Dermatologe für die Reichen und Wohlhabenden. Muss ein völlig durchgeknallter Typ sein. Auf seinem Grundstück soll es ein kleines Gefängnis geben? Ein unterirdisches Verlies? Erst heuert er Illegale an, damit sie seine Aprikosen und Birnen pflücken, und anschließend lässt er sie foltern? Unglaublich. Und dann schickt er sie mit noch blutenden Striemen zurück nach Mexiko, damit sich unter den anderen herumspricht, was für Arbeitsbedingungen man in Arizona vorfindet.«
»Er kann es sich erlauben«, sagte Carla, »weil er Teil des Systems ist. Er gehört zu den wichtigsten Spendern für die Wahlkampfkasse, und zwar die beider Parteien. Zahlt jedes Jahr Unsummen in die Fonds ein. Einem Dr. Stefan Selbiades tritt niemand vors Schienbein. Dabei ist er selbst ein Immigrant. Wäre es nicht so entsetzlich, man könnte lachen über die Ironie, die dem Ganzen innewohnt.«
»Entsetzliche Menschen tun entsetzliche Dinge.«
»Und die guten stehen manchmal nur daneben und schauen zu.«
Und werden so zu Komplizen. Carla hatte es nicht aussprechen müssen, es stand auch so in der Landschaft. Die wahren Guten schlagen zurück. Bei ihrer Betrachtung der Welt entdeckte sie keine Grautöne. Käme es zur Revolution, würde ich wegen meines Danebenstehens gehängt, während der Mob mit Stöcken und Steinen aufeinander losginge.
»Behandeln sie dich gut hier drin?«, fragte ich, um abzulenken.
»Ich bin sozusagen Ehrengast. Sie bringen mir sogar Kekse und Süßigkeiten. Die Wärterinnen nennen mich la profesora . Sie glauben, ich wäre eine Art heiliger Berühmtheit. Niemand behandelt mich wie eine Kriminelle.«
Das schien sie zu enttäuschen. Welcher Märtyrer bekommt Kekse und Süßigkeiten? Wo waren die Peitschen, wo die Ketten? Die täglichen Leibesvisitationen, die Wasserfolter und die Starkstromkabel, die man an die Geschlechtsteile hält?
»Also muss ich keinen Ausbruch organisieren?«
Sie lächelte. »Himmel, nein! Ich fühle mich fast wie zu Hause. Vielleicht bin ich für das Gefängnis geboren. Wie geht es Luther? Er und Menschen erschießen — das will mir nicht in den Kopf.«
»Gut möglich, dass er eine wandelnde Zeitbombe ist, die irgendwann mal hochgeht, doch momentan ist er der Mann der Stunde. Das Büro des Staatsanwalts betrachtet die Schießerei als Notwehr. Und die NRA wird ihn vermutlich zur Galionsfigur ihrer nächsten Kampagne küren.«
»Und seine Freundin? Wer ist sie?«
»Lelanie Loftsgarten. Eine Lyrikerin.«
»Genau das, was er braucht«, sagte sie. »Der fidele Balztanz geht weiter.«
»Und kein Ende in Sicht, wie’s scheint.«
»Ich war gerade mal einundzwanzig, als ich Luther kennenlernte«, sagte sie. »Ich habe mich nicht seines guten Aussehens wegen in ihn verliebt — und er sah damals gut aus! Er war ein engagierter Kriegsgegner zu einer Zeit, als Proteste gegen den Krieg nicht mehr angesagt waren. Für mich war er ein Held. Ein Mann, der für seine Überzeugungen eintritt. Viel später erst habe ich erkannt, dass er das Militär nicht aus Prinzip hasste, sondern aus rein persönlichen Gründen. Er nahm alles persönlich, was dann zu seinen mentalen Problemen geführt oder sie zumindest befördert hat. Krieg oder Politik kümmern ihn einen Scheiß. Ist schon komisch, wie es einem die Füße wegziehen kann, wenn man sich an jemanden bindet, den man zu kennen glaubt, aber nicht kennt.«
»Mein Motto. Ich sollte es mir auf die Stirn tätowieren lassen«, sagte ich. »Vielleicht sollte das jeder.«
Die Warnlampe blinkte auf und wir mussten unser Gespräch beenden. Ich wollte den Hörer aufhängen.
»Warte, J.P., ich muss dich noch um einen Gefallen bitten.«
Die Warnlampe blinkte erneut auf. Ich hätte eigentlich gehen müssen.
»Entspann dich«, sagte Carla. »Es ist nichts Dramatisches. Ich brauche ein paar Sachen aus dem Haus. Frauenkram. Das ist doch okay für dich, oder? Ich mag die Marke nicht, die man hier bekommt. Außerdem brauche ich Slipeinlagen.«
Schau hinter die fetten, nackten Frauen , formten ihre Lippen.
» No problema «, sagte ich.
37
Die fetten, nackten Frauen? Das musste eines der Gemälde sein, die in Luthers Gästezimmer hingen. Ich rief ihn an, erklärte, dass ich vorbeikäme.
»Mir wäre lieber, du kämst nicht«, sagte er.
»Was ist los?«
»Mir ist unwohl.«
»Bist du krank?«
»Nicht krank. Unwohl. Das ist ein Unterschied.«
»Was ist passiert, Luther?«
»Nichts ist passiert. Warum muss
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