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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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müssen. Selbiades war nicht der Typ, der Krawall machte. Tatsache war, er verhielt sich auf eine unheimliche Weise ruhig.
    »Sie haben eine gute Haut«, sagte er. »Makellos, feine Poren, ein hervorragend geschichtetes Epithelgewebe. Darf ich Sie berühren?«
    »Sie möchten was?«
    »Keine Sorge. Ich möchte nur die Beschaffenheit und Elastizität einer gesunden Epidermis spüren.«
    Ich legte meine Hand auf die Pistole. »Nicht anfassen.«
    »Ja, natürlich. Ich verstehe. Es ist nur … die Haut ist sozusagen meine Domäne.« Seine langen Finger mit den manikürten Nägeln bewegten sich auf mein Gesicht zu, hielten jedoch wenige Zentimeter davor inne. Ich bemerkte, dass ein leichtes Zittern sie erfasst hatte.
    »Ganz allgemein kann man sagen, dass der Körper das Reich des Arztes ist«, fuhr er in seinem Monolog fort. »Eine Vorherrschaft, die sich im Laufe blutiger Jahrtausende durchgesetzt hat. Wir beanspruchen sie, und das aus gutem Grunde. Nennen Sie es meinetwegen Arroganz, tatsächlich jedoch ist der Körper unser hart erkämpftes Territorium. Die Persönlichkeit, die das Fleisch okkupiert, nehmen wir nicht ernst. Sie ist bestenfalls ein ephemere Sache. Die Bedürfnisse und Zweifel des Hamsters, der das Rad in Gang hält, sind für uns nicht von Belang. Jeder Körper gleicht mehr oder weniger dem anderen, doch die ihm innewohnende Persönlichkeit ist ein Mischmasch aus Impulsen, Verlangen und halb garen, sich oftmals widersprechenden Überzeugungen. Ein scheußliches Wirrwarr miteinander konkurrierender Wünsche und Gefühle.«
    »Betrifft das auch Sie persönlich?«, fragte ich.
    »Nein. In meinem Falle, und vielleicht auch in Ihrem, ist das disziplinierte, auf Wissen fußende Denken das große Korrektiv.«
    »Das bezweifle ich.«
    »Ah, dann haben Sie diesbezüglich bereits Überlegungen angestellt?«
    »Nicht wirklich. Aber eine Täuschung ist so gut oder schlecht wie die andere.«
    »Das glauben Sie tatsächlich?«
    »Mitunter.«
    »Relativismus«, höhnte Selbiades. »Der Fluch unserer Zeit. Jede Ebene unserer Gesellschaft ist infiziert. In einer Welt des Relativismus gibt es keine Klarheit und es kann auch keine Helden geben — nur sich abrackernde Opportunisten und ihre gelangweilten Herren. Manchmal frage ich mich, ob dieses Land es überhaupt wert ist, gerettet zu werden.«
    Der Vortrag endete, als wir vor dem eisernen Tor des Anwesens der Selbiades’ hielten. Der Doc musste aussteigen und das Tor per Hand öffnen, da der elektronische Schlüssel im Handschuhfach seines Alfa Romeo lag, der wiederum stand in der Nähe seiner Praxis. Das Steißbein bereitete Selbiades Probleme. Er bewegte sich steif, als hätte man ihm einen Ziegelstein in den Arsch gerammt.
    Es war noch ein Dreiviertelkilometer zurückzulegen, dann waren wir am Haus, einem dreigeschossigen grauen Bau im viktorianischen Stil, mit Türmchen, Wetterfahnen und pittoresken Giebeln, umgeben von einer üppigen Rasenfläche, groß genug, um einen 9-Loch-Golfplatz anzulegen. Wenn man nach einem Sinnbild für den Begriff »idyllisch« suchte, dann fand man es hier. Vor der Kulisse einer unwirtlichen Wüstenlandschaft erhob sich das Landhaus gleich einer Idee aus einer anderen Zeit, die hier wieder auflebte. Obsthecken umschlossen die Rasenfläche, wunderbare grüne Bäume, die feinen Nebeldunst in die trockene Luft entsandten. Oberhalb des Blattwerks spannte sich ein märchenhafter Regenbogen.
    Ich hielt Selbiades mit meiner Waffe in Schach, während wir die Stufen zur Veranda hochgingen. Eine hohe Doppeltür, flankiert von gemeißelten Säulen, markierte den übertrieben imposanten Eingang. Betrat man das Haus, überkam einen das Gefühl, man schlüpfe durch ein Zeittor. Vorhänge aus Samt verhüllten hohe Fenster und machten es der Wüstensonne unmöglich, den mit Teppichen ausgelegten Raum mit ihrem grellen Licht zu fluten. Das langsame Ticken einer Standuhr unterstützte den Eindruck einer Zeitreise.
    Das Mobiliar war dunkel, dazu tiefe Sessel und Sofas mit üppigen Polstern. Die Gemälde an den Wänden thematisierten historische Feldzüge. Auf einem belagerten wild dreinblickende Füsiliere eine Gruppe verwundeter Offiziere, die tapfer eine einsame Barrikade verteidigten. Das Gemälde hing über einem Kamin, dessen Ausmaße es erlaubt hätten, einen ganzen Eber darin zu rösten.
    »Gefällt Ihnen meine Uhr?«, fragte Selbiades. »Es ist eine Jakob Strauß. Vor dreihundert Jahren in Nürnberg gefertigt.«
    »Sie geht zehn Minuten nach«,

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