Götterdämmerung
Gewässers. Das bedeutete dem Buch zufolge: «Hüte dich, den Zorn der Götter zu beschwören. Willst du nicht deinen Kopf tragen wie der Ritter seinen Helm in Friedenszeiten, so lasse den Dingen ihren gerechten Lauf. Plagt dich Sehnsucht nach der ew’gen Finsternis, so suche die Afallenau.»
Gwydiot klappte das Buch zu und verzog das Gesicht zu einem Fragezeichen. Die Afallenau? Die Apfelbäume? Wo hatte er das gelesen? Auf einem Stein? Auf einem alten Pergament? Als er gerade den Entschluss gefasst hatte, in seine Hütte zurückzukehren und dort erstens die Kutte zu wechseln und zweitens nach einem Hinweis auf die vertrackten Afallenau zu suchen (obwohl er eigentlich keine besondere Sehnsucht nach der ewigen Finsternis verspürte), hörte er das Huftrommeln eines herannahenden Pferdes. Er wandte den Kopf in Richtung des schmalen Pfades, der, von einem breiteren Pfad abzweigend, zum Teich führte. Pferd und Reiter schossen in gestrecktem Galopp an der Abzweigung vorbei. Das Hufgetrappel wurde leiser und verstummte plötzlich. Dann wurde es wieder lauter. Der Reiter erreichte die Abzweigung zum zweiten Mal, galoppierte auf den schmalen Pfad und prallte, ehe Gwydiot ihm eine Warnung hatte zurufen können, gegen einen der tief über dem Weg hängenden Äste. Erleichtert lief das ausgepumpte Pferd noch einige Meter weiter, während der gutgerüstete Ritter, den Gesetzen der Gravitation aufs Wort gehorchend, mit ohrenbetäubendem Scheppern zu Boden ging.
Gwydiot erreichte ihn, als er gerade wieder zu sich kam.
«Wo bin ich?», fragte der Ritter benommen.
«Im magischen Wald von Glanwrhydd.»
«Aha. Und wer seid Ihr?»
«Der Magier Gwydiot.»
«Oh!» Der Ritter riss die Augen auf. «Auch
Der weise Gwydiot
genannt?»
«Na ja», sagte Gwydiot geschmeichelt.
«Der, den man den
Wahnwitzigen Waldmensch
ruft?»
«Äh … Ja.»
Der Ritter rappelte sich auf und klopfte sich einige Blätter aus dem Kettenhemd. «Jener, den man den
bekloppten Beerenfresser aus dem dunklen Forst
nennt? Den
Stichlingspinner
, den …»
«Der bin ich», unterbrach Gwydiot möglichst würdevoll. «Und wie ist euer Name, Ritter?»
«Äh … Gawain.»
«Jener Gawain», fragte Gwydiot honigsüß, «den man auch
Die tumbe Tafelrundennuss
…»
«Genug der langen Vorrede», räusperte sich Gawain. «Unser König wünscht Euch zu sehen, Magier.»
«Der König? Aus welchem Grund?»
«Er braucht Eure Hilfe. Schreckliche Dinge geschehen im Reiche Britannien. Stündlich erreichen Boten Camelot und berichten von unerklärlichen Geschehnissen. Der König benötigt Euren Rat …»
«Oh.» Gwydiot dachte schaudernd an die Ergebnisse seiner letzten Orakelversuche. «Jetzt gleich? Sofort?»
«Jetzt gleich sofort, ja. Ich soll Euch nach Camelot bringen.»
«Na schön.» Der Magier nickte ernst. «Wenn der König es befiehlt. Ich werde mein Pferd satteln.»
«Vielleicht …», sagte Gawain und stockte.
«Vielleicht was?»
«Äh. Vielleicht … solltet Ihr vorher eine andere Kutte anziehen, Gwy …»
Gawain verstummte, als ihn der Blick des Magiers traf. Er hatte das dumme Gefühl, er würde beim nächsten Wort wie eine Fackel zu lodern beginnen.
6
Der große Rabe Hugin segelte mit majestätisch ausgebreiteten Schwingen über die monotheistische Senke und hielt zielstrebig auf die pechschwarzen, feuchtglänzenden Türme von Asgard zu. Er hatte genug gehört, um seinem Herrn Bericht erstatten zu können. Und was er gehört hatte, würde seinem Herrn nicht gefallen. O nein, es würde ihm ganz und gar nicht gefallen. Die Idee an sich war zweifellos prima, nur stammte sie eben von einem Griechen, nicht von Odin selbst. Und wenn Odin etwas nicht ertragen konnte, dann waren es gute Ideen, die von anderen Leuten stammten.
Hugin durchstieß eine der schwarzen Wolken und ließ sich von einem Windstoß hinauftragen zum Sims von Odins Turmfenster. Sein Herr und Meister stand am gegenüberliegenden Fenster und sah mit seinem einen Auge hinaus in die undurchdringliche Nebelwand, die Asgard vom Irgendwas trennte und in die noch nie ein Gott eingetreten war. Manchmal zerriss die Wand in dicke Schwaden, eigenartige Nebelfiguren, aber nie konnte man irgendetwas erkennen, das einem wenigstens entfernt bekannt vorkam … Was mit einem Auge natürlich ohnehin nicht ganz einfach ist. Aber Odin hatte nun mal nur eins. Sein zweites befand sich schon seit langem im Kopf des Riesen Mirmir, der im Keller von Asgard den Quell der Weisheit bewachte. Einen
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