Götterdämmerung
vollkommener Blödsinn war, aber in Athenes Augen beileibe kein Problem, mit dem sie und ihresgleichen sich zu beschäftigen hatten.
Hätte Zeus sich damit zufriedengegeben, ein kleines PSI - oder Naturwunder zu veranstalten oder ein Genie auf die Welt loszulassen, wäre Athene natürlich nicht beunruhigt gewesen. Das konnte man machen. Ab und zu. Die Weltgeschichte konnte kleinere Eingriffe verkraften, ohne gleich krachend aus dem Leim zu gehen, und die Wirkung blieb ja in der Regel nicht aus. Zumindest fanden so einige Sterbliche den Glauben an das Unerklärliche wieder, auch wenn andere versuchten, das Rätsel mit abstrusen Thesen über evolutiönar springende oder mutierte Erbmassen zu erklären. Spinner und Trottel gab es überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Aber die würden auch jetzt, nach Zeus’ Eingriff, nicht das Richtige entdecken, sondern von Quarks, schwarzen Löchern, Massenhypnose oder gigantischen Magnetfeldern reden. Selbst wenn Zeus persönlich vor ihnen auftauchte.
Athene hatte einen Blick auf die Welt der Sterblichen riskiert. Sie hatte gesehen, dass die Blitze noch keine allzu großen Löcher geschlagen hatten, dass sie das Zeitgefüge bisher nur an wenigen, vergleichsweise unwichtigen Stellen durchbohrt hatten. So weit war an Zeus’ Plan eigentlich nichts auszusetzen. Vielleicht wurde die Welt dadurch sogar besser, denn immerhin schienen sich die losgelassenen Blitze bevorzugt die nutzlosen Teile der jeweiligen Gesellschaften auszusuchen. Noch hatte dieser Eigensinn der Götterblitze also durchaus positive Auswirkungen.
Nur wusste Athene, was mit dem fragilen Gebilde, das die Menschen geschichtliche Entwicklung nannten, passieren konnte, wenn die Blitze plötzlich an den falschen Stellen einschlugen. Wenn das geschah, stünde plötzlich kein Stein mehr auf dem anderen, wären Dinge plötzlich objektiv nicht mehr da, die subjektiv, in den Köpfen der Menschen, sehr wohl da waren. Die Illusion der Objektivität, diese kollektive Subjektivität, würde sich in nichts auflösen; und was war Gegenwart ohne Vergangenheit, ohne verbindliche Erinnerungen? Alle Gegenwarten und Zukunften würden sich in Hypothesen verwandeln, in Konjunktive und launische Vielleichts. Und wenn die Erde dann nicht schnell genug infolge eines Krieges explodierte, der vorher nicht existiert hatte, wären ihre Bewohner binnen Tagen oder Wochen nicht mehr in der Lage, die Welt, in der sie sich häuslich eingerichtet hatten, auch nur annähernd zu begreifen. Den Sterblichen bliebe nur noch ein einziger Halt, nämlich der Glaube.
Athene verschränkte die Arme vor der Brust und legte die Stirn in tiefe Sorgenfalten. Verstand allein genügte nicht, ohne Frage. Aber genügte der Glaube? Allein? In einer Welt, die keinen einzigen Anhaltspunkt mehr bot? Keine Möglichkeit, die goldene Mitte, das rechte Maß zu finden?
Kopfschüttelnd verscheuchte sie all diese unerfreulichen Überlegungen und machte sich auf den Rückweg zur Platane.
Es musste einen Weg geben.
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Zweiter Teil Unzuverlässige Zeiten
(Allegro vivace)
Es ist ein großer Unterschied
zwischen etwas
noch
glauben
und es
wieder
glauben.
Noch
glauben, dass der Mond auf die Pflanzen würke,
verrät Dummheit und Aberglaube, aber es
wieder
glauben
zeugt von Philosophie und Nachdenken.
LICHTENBERG
Oh Tempora! Oh Morris!
GROUCHO MARX
1
Verschüttet unter massiven inneren Geröllschichten schlummert im Menschen, sogar im Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, das Talent zur alltäglichen Improvisation: die Fähigkeit, auch ohne gigantische Hilfsapparate, die sich Verwaltungen nennen, problemlos mit dem Leben klarzukommen – wie sich inbesondere in der Jetztzeit bewies, als plötzlich und spurlos Hunderttausende wertvolle Belegsortierer, Aktenarchivare, Knöllchenschreiber und Immobilienverwalter verschwanden, die allenfalls von ihren Angehörigen vermisst wurden, aber eben von niemand sonst.
Was nun keineswegs bedeuten soll, dass mit dem Verschwinden all dieser unfreien oder freien Verwalter, Verzögerer, Verhinderer und Vermittler schlagartig alles besser geworden oder gerechter zugegangen wäre; das war beileibe nicht der Fall. So nahm beispielsweise die Zahl jener erschütternde Ausmaße an, die falsch parkten, ohne den Verkehr zu behindern, und Häuser und Wohnungen wurden vielerorts weit günstiger als zuvor vermietet, weil sich mit dem Verschwinden zahlreicher Makler plötzlich eine anarchische Subkultur entwickelte,
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