Götterfall
den Tieren an, dass sie den Vulkanausbruch auch langsam nicht mehr witzig fanden. Oder schliefen die einfach ganz entspannt im Stehen?
»Hey«, flüsterte Wencke. »Wer von euch hätte Lust, eine Anfängerin abzuwerfen?«
Das mittlere Pferd schnaubte. Es war auch das kleinste von allen. Gut, dann würde sie wenigstens nicht allzu tief fallen.
Das Gatter quietschte natürlich beim Aufschieben, damit auch ja jeder mitbekam, dass Wencke gerade zur Pferdediebin wurde. Und wie kam man da rauf, so ganz ohne Steigbügel, Pferdeknecht und Hilfsleiter – dafür aber mit kaputten Händen? Der Rossrücken ging Wencke bis zur Nasenspitze. Von Weitem hatte das deutlich niedriger gewirkt!
Die Eingangstür schlug zu, der ungebetene Besucher musste zwischenzeitlich festgestellt haben, dass das Haus menschenleer war. Jetzt würde er sich gleich das umliegende Gelände vornehmen. Einmal rund um die Hütte. Dabei käme er in ganz kurzer Zeit auch zur Pferdekoppel. Wenn Wencke bis dahin nicht davongaloppiert war, dann …
»Entschuldigung, falls ich dir wehtue …« Auch wenn Wenckes Handflächen eigentlich noch zu wund für solche Aktionen waren, krallte sie sich in die Mähne und zog sich daran mit einem Ruck nach oben. Immerhin, das hatte sie sich bei Winnetou abgeguckt. Allerdings hatte der Häuptling der Apachen dann nicht die ersten hundert Meter seltsam schief und wackelig auf dem Pferd gehangen, so wie Wencke es gerade tat. Als sie es endlich unter Aufbietung aller motorischen Finessen geschafft hatte, das Bein zur anderen Seite zu schieben und in eine Position zu kommen, die entfernt mit Sitzen zu tun hatte, war das treue Tier schon ein ganzes Stück gerannt. Weit genug, um einen Verfolger, der zu Fuß unterwegs war, abzuhängen – was das betraf, waren sie außer Gefahr. Doch bis zur nächsten menschlichen Siedlung gab es bestimmt noch unzählige Stellen,an denen Wencke ihre unbeholfenen Reitversuche mit einem Genickbruch bezahlen könnte.
»Brav«, sagte sie ins Pferdeohr und tätschelte sogar vorsichtig das Fell. »Ich weiß, andere Touristen zahlen viel Geld dafür, dass du sie hier durch die Gegend schleppst. Die machen das bestimmt auch viel besser. Und haben auch viel weniger Angst als ich.«
Jetzt hoppelten sie über die Schotterpiste, wenn Wencke sich nicht täuschte, in Richtung Osten. »Aber bitte sei so nett und bring mich irgendwohin, wo man atmen und sich ein Taxi mieten kann. Mehr will ich gar nicht, hörst du?«
Das Pferd schnaubte wieder. Es klang richtig freundlich.
Skuld
[… heute …]
Sie hat mich erkannt.
Doch sie hat mich nicht besiegt.
Sie ist nicht mehr als Gast in meinem Haus. Sie ist weg, ist auf dem Weg hierher.
Ich habe mich nicht in ihr getäuscht.
Sie ist fast wie ich, versteht, wie alles miteinander verwoben ist. Natürlich versteht sie es.
Sie ist der Krater, aus dem die Lava vom Untergrund in den Himmel geschleudert wird.
Sie ist der Abgrund, an dem das getaute Eis in die Tiefe stürzt bis zum Weg ins Meer.
Sie ist die Mutter, die geboren hat, und die Tochter, die zur Welt gekommen ist.
Sie ist die Gegenwart, das Hier und das Heute. Bei ihr laufen die Zeiten zusammen. Auch wenn sie nur der Scheitelpunkt ist, an dem die Vergangenheit und die Zukunft einander begegnen, so kommt sie gerade dadurch der Wahrheit am nächsten.
In der Vergangenheit habe ich mir gewünscht, Verðandi würde nicht hierherkommen. Weil ich mich vor ihr gefürchtet habe, das muss ich mir eingestehen. Wenn eine es schafft, mich zu bremsen, dann sie. Doch Skuld hat darauf bestanden. Hat gesagt, sie müsse dabei sein. Müsse miterleben. Um jeden Preis.
In der Vergangenheit habe ich gedacht, ich müsste Verðandiabhalten, bis zum Ende mit dabei zu sein. Ich dachte, es wäre besser, sie zu hindern. Aber sie hat überlebt. Die Gegenwart lässt sich nicht töten.
Heute bin ich froh darum. Ohne Verðandi wäre es nur ein Spiel gewesen. Mit ihr ist es ein Kampf.
Heute ist der Tag, an dem ich endlich siegen werde.
Verðandi
[17. Juni, 9.07 Uhr, Goðafoss , Þingeyjarsveit, Island]
Plötzlich stehst du da am Rande eines Wasserfalls, an so einem Ort, den du höchstens mal auf dem Foto eines Wandkalenders bestaunen durftest, so richtig mit Vorhang aus Wasser und Regenbogen über dem Tal. Manchmal, wenn die Morgensonne es durch die Wolken schafft, sind es sogar zwei übereinander. Lila und rot und orange und gelb und grün scheint die nasse Luft und du erinnerst dich an die Geschichte, die dir dein Vater
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