Götterfall
abgefassten Schriftstücken war nichts Verständlichesabzugewinnen, aus dem man Schlüsse hätte ziehen können. Einige Seiten sahen zudem aus, als beinhalteten sie komplizierte physikalische Formeln, die hätte Wencke selbst in ihrer Muttersprache nicht kapiert.
Es war eigentlich egal, ob Jarle – sollte er irgendwann einmal zurückkommen – gewahr wurde, dass sie in seinen Sachen gewühlt hatte, aus ihnen würde sowieso kein Liebespaar werden. Trotzdem begann Wencke mit dem Aufräumen. Irgendetwas musste sie tun, sonst würde sie gleich verrückt werden.
Als sie mit ihren noch immer wunden, notdürftig bandagierten Händen einen dicken Ordner zurückstellen wollte, entglitt er ihr und landete auf dem Boden, sodass das Papier zerknickte. Wencke versuchte, die Seiten glatt zu streichen, erst eher beiläufig, bis ihr Blick dann doch die deutschen Worte identifizierte, die dort gedruckt standen.
Es war ein Brief vom Deutschen Patentamt in München, fast vertraut in seinem preußisch standardisierten Format, adressiert an Dr. Jarle Yngvisson. Er stammte aus dem Jahr 2010, und die Sätze, die sich von einem Paragrafen zum nächsten hangelten, hatten dem Empfänger wahrscheinlich gar nicht gefallen:
Sehr geehrter Herr Dr. Yngvisson,
wir beziehen uns hiermit ein weiteres Mal auf Ihre Anfrage vom 21. Januar diesen Jahres, in der Sie die Klärung Ihres Anliegens ansprechen. Leider können wir Ihnen in dieser Angelegenheit keine Zugeständnisse machen.
Ihr Patent mit dem Aktenzeichen A-23072010- CH wurde 1990 noch nach DDR -Recht als sogenanntes Wirtschaftspatent angemeldet und ist somit nach § 2 Abs. 6 Eigentum der Kreuma-Werke, beziehungsweise der AlumInTerra-AG , die 1994 durch Vermittlung der Treuhand den ehemaligen Volkseigenen Betrieb gekauft hat.
Kein Zweifel, bei diesem Patent musste es sich um Jarles Formel handeln, die er in seiner Zeit in Deutschland entwickelt und die den Kaufpreis der Kreuma-Werke so positiv beeinflussthatte. Aber warum wandte er sich in dieser Sache noch zwanzig Jahre später an irgendwelche Ämter? Wencke las weiter:
Wir geben Ihnen in dem Punkt recht, dass es dem Erfinder laut § 1 Abs. 1 des DDR -Patentgesetzes von 1950 theoretisch freistand, sich für das traditionelle Ausschließungspatent zu entscheiden, welches die persönliche Benutzungs- und Verwertungsbefugnis gesichert hätte. Faktisch gab es diese Wahlmöglichkeit jedoch nicht, insbesondere wenn die Erfindung im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Erfinders in einem Volkseigenen Betrieb, einem staatlichen Forschungsinstitut oder in anderen öffentlichen Einrichtungen oder mit staatlicher Unterstützung gemacht worden ist. Der Erfinder verlor beim Wirtschaftspatent zwar die Kontrolle über die Ergebnisse seiner Erfindertätigkeit, ihm stand im Falle der Benutzung jedoch das Recht auf Anerkennung als Erfinder, auf Nennung seines Namens sowie auf eine Erfindervergütung, deren Höhe vom Umfang des erzielten Nutzens abhing, zu (§ 2 Abs. 2, 3 PatG).
Ihre Bitte, das Patent vor Ablauf der maximalen Laufzeit (§ 16 PatG Art. 63) mit einem ergänzenden Schutzzertifikat um fünf Jahre zu verlängern und zudem auf Sie als alleinigen Erfinder zu übertragen, da die AlumInTerra-AG keinen für Sie rentablen Nutzen erzielt hat, kann somit nicht erfüllt werden, und wir bitten Sie höflichst, von weiteren Anfragen in dieser Angelegenheit abzusehen, da die Gesetzeslage eindeutig definiert und nicht weiter verhandelbar ist …
Es folgten noch etliche Formulierungen dieser Art, Hinweise auf rechtsgültige Urteile und Verweise auf Ergänzungen im Gesetzestext, bevor der bürokratische Schwall schließlich in die inhaltslose Floskel Mit freundlichen Grüßen … gez. Sachbearbeiter sowieso … mündete.
Nur selten hatte Wencke den trockenen Lehrstoff ihrer Beamtenausbildung als nützlich empfunden, aber wenn es um das Lesen und Verstehen von solchen Satzschlangen ging, kam ihr dieses Knowhow wirklich zugute. Sie blätterte vor und zurück,hoffte, noch weitere Schreiben zu finden, da es vor einigen Jahren anscheinend einen regen Schriftverkehr zwischen Jarle und dem Patentamt gegeben haben musste, und fand tatsächlich zwischen etlichen isländischen Hieroglyphen noch mehr Briefe aus Deutschland. Ein Hin und Her von Rechtsauslegungen – diese komplette, lange Aktenreihe, alle zwölf dicken, schweren Ordner, war womöglich nur einer einzigen Thematik gewidmet: Jarle hatte mit seiner genialen Formel nämlich keinen einzigen
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