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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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waren den ganzen Abend schon einerseits hoffnungsvoll, ihn zu finden, aber uns war auch bange vor dem, was man dann vielleicht zu Gesicht bekommt. Während meiner bisherigen praktischen Ausbildung bin ich mit keiner vergleichbaren Gewalttat konfrontiert worden.
    Silvie und ich sind sofort ins Wasser, obwohl es sehr kalt war, teilweise sogar mit Eis bedeckt. Das Boot trieb so ziemlich in der Mitte des Sees, aber wir wußten ja, daß das Wasser nicht besonders tief ist, es reichte uns bis zur Mitte der Oberschenkel.
    Sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen waren unmöglich, weil das Boot zu kentern drohte, sobald wir raufgeklettert sind und das Gewicht damit auf eine Seite verlagert haben, deshalb haben wir nach ungefähr einer Minute aufgegeben und das ganze Ding an Land gezogen, beziehungsweise geschoben. Das hat ziemlich lang gedauert, der Seegrund war rutschig und unsere Beine schon stark unterkühlt, das Laufen fiel sehr schwer. Ich habe die ganze Zeit den Jungen angestarrt, er hatte die Augen geschlossen, den Mund auch, die Hände zwar nicht gefaltet, aber aufeinandergelegt, da war mir schon klar, daß er tot sein muß und sein Mörder ihn drapiert hat, wie ein Bestatter es tun würde. Aber obwohl mir das bewußt war, habe ich höllisch aufgepaßt, daß der Kleine kein Wasser abkriegt, weil es doch so furchtbar kalt war. Als wir dann endlich am Ufer waren, habe ich sogar meine Jacke ausgezogen und überihm ausgebreitet, damit er nicht mehr friert. Natürlich war das Schwachsinn. Wahrscheinlich stand ich unter Schock.
    Wir haben überlegt, was in diesem Fall richtig ist, also was in unseren Polizeidienstvorschriften über das Auffinden einer Leiche geschrieben steht. Da widersprechen sich ja die Meinungen, ob man in jedem Fall noch Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten oder alles möglichst unberührt lassen sollte. Dann kamen die Kollegen von der Kripo und haben die Sache übernommen. Silvie und ich durften gleich auf unsere Zimmer, um uns trockene Sachen anzuziehen.
    In der Aufregung haben wir es unterlassen, den Fundort eingehender zu betrachten. Es kann sein, daß noch jemand anderes am See war und uns beobachtet hat, eventuell aus einem Versteck heraus. Ich kann das weder verneinen noch bejahen. Ich stand einfach völlig neben mir. Unterzeichnet: Wencke Tydmers und KHK Hans-Jörg Pichler, Bad Iburg, 20. Januar 1994
    Wencke blätterte, offensichtlich fehlten einige Seiten. Bestimmt handelte es sich um die Aussage von Silvie. Nun, das war nicht so tragisch, da Wencke und Silvie die ganze Sache gemeinsam durchgestanden hatten, würden sich ihre Worte nicht groß unterscheiden.
    Als letztes Blatt der Akte fand sich nur noch eine magere Notiz:
    Das von den Zeuginnen gefundene Boot war eines der roten Plastikruderboote, die im Sommer ausgeliehen werden können und derzeit zur Überwinterung auf der Terrasse des Schloßmühlencafés lagern. Die erste Leichenschau ergab, dass der Junge zum Zeitpunkt des Leichenfunds etwa seit fünf Stunden tot war. Äußere Verletzungen sind auf den ersten Blick nicht zu sehen, jedoch ist ein Loch in der Oberbekleidung (Durchmesser ca. 2 cm) in Höhedes Herzens zu erkennen, darunter wird eine Verletzung sichtbar, dies weist auf Gewalteinwirkung mit einem größeren, spitzen Gegenstand (eventuell Messer) hin. Näheres nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung.
    Die Texte konnten noch so sachlich formuliert sein, sie wühlten Wencke trotzdem auf. Die Kosian hatte recht damit, dass man die erste Leiche niemals vergisst. Als Wencke nach all den Jahren ihre eigene Aussage studierte, in der es um das Auffinden von Jan gegangen war, darunter ihre Unterschrift entdeckte, ganz ähnlich der heutigen Signatur, nur etwas runder und kleiner, da war sie froh, auf einem harten Holzstuhl zu sitzen, sonst wäre sie irgendwo in der Erinnerung versunken. Hätte wieder diese eiskalten Beine bekommen, mit denen sie im Charlottensee kaum noch einen Schritt vor den anderen hatte setzen können. Und dann gesellte sich die Angst dazu, etwas falsch zu machen, eine Chance auf Wiederbelebung verstreichen zu lassen oder elementar wichtige Spuren zu verwischen  – es war zwanzig Jahre her, aber dieses Scheißgefühl kannte keine Halbwertszeit. Es drängte sich mit ganzer Kraft in Wenckes Bewusstsein. Sie arbeitete vehement dagegen an, indem sie Seite um Seite blätterte, las, blätterte. Als der Archivar schließlich wieder neben ihr auftauchte, erschrak Wencke, so sehr war sie in die Akten vertieft gewesen.
    »Tut

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