Götterfall
mir leid. Auch in Sachen Dorothee Mahlmann muss ich sagen: absolute Fehlanzeige.«
»Kann es sein, dass die restlichen Akten woanders gelagert werden?«
»Dann gäbe es einen entsprechenden Verweis.« Es war nicht zu übersehen, dass Wencke dabei war, die Hilfsbereitschaft des Archivars überzustrapazieren.
Trotzdem schaute sie ihn hartnäckig auffordernd an. Er stöhnte, nahm Wencke die Akte aus der Hand und blätterte darinherum. »Sie haben recht, das ist wirklich nicht viel. Aber ich kann da jetzt auch nichts aus dem Hut zaubern.«
»Können Sie mir eventuell sagen, ob einer der damaligen Polizisten heute noch hier in Osnabrück ist?«
Der Archivar gab einige Namen ein. PM Ricardo Fernandez – nichts, POK Andrea Geil – nichts. Aber KHK Hans-Jörg Pichler, der damals die Suchaktion geleitet und auch Wenckes Aussage aufgenommen und unterzeichnet hatte, war noch immer in Osnabrück, sogar im selben Haus, sogar gerade in diesem Moment. Unendlich erleichtert, doch etwas zur Zufriedenheit dieser impertinenten LKA-Frau beigetragen zu haben, nannte der Archivar ihr die Zimmernummer und wünschte viel Erfolg.
Pichler, der Kommissar von damals, war inzwischen zum Dienststellenleiter aufgestiegen und schien ein fotografisches Gedächtnis zu haben, denn er begrüßte Wencke, als wäre sie erst vor zwanzig Minuten mit ihrer Aussage zum Mordfall Hüffart fertig geworden und nicht vor zwanzig Jahren. »Sie sind kaum älter geworden«, fand er, und er war so ein Typ Mann, dem man dieses Kompliment abnahm. »Wie unser eifriger Mitarbeiter im Reich der tausend verstaubten Fälle mitteilte, sind Sie inzwischen beim LKA? Alle Achtung!«
Wencke reichte ihm die Hand. »Ich habe nach den Akten im Fall Jan Hüffart gesucht, aber nichts gefunden außer ein paar belanglosen Protokollberichten. Haben Sie eine Ahnung, wo der Rest der Unterlagen geblieben sein könnte?«
Er schien überlegen zu müssen, dann bot er ihr den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch an, lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte seine Fingerspitzen aneinander, wie es sonst nur Spitzenpolitiker tun, die einen höchst konzentrierten Eindruck vermitteln wollen. »Was genau möchten Sie denn in Erfahrung bringen?«
Wenn Wencke das wüsste! Sie versuchte es mit einem sachlichenEinstieg: »Wie kam es damals zu Götzes Verhaftung? Welchem Hinweis sind Sie nachgegangen?«
»Haben Ihre Fragen etwas damit zu tun, dass dieser Mann neuerdings wieder auf freiem Fuß ist?«
Wencke umschiffte eine konkrete Antwort. »Ich werde heute Abend zu einem EU-Kongress nach Island fliegen. Ich habe vor, den Fall Frank-Peter Götze dort vorzustellen.«
Er lächelte etwas schief. »Na ja, interessant genug war Götze zweifelsohne.«
»Wissen Sie noch, welche Forderungen im Erpresserbrief gestellt wurden? Das Beweismittel war nämlich auch nicht in den Akten zu finden, noch nicht einmal ein Hinweis auf dessen Inhalt.«
»Es ging um ein Treuhandgeschäft. Einen Firmenverkauf in Sachsen.«
»Welches Interesse sollte Götze daran gehabt haben?«
»Götze stammte von dort und war so etwas wie der Wortführer einer Gruppe, die den Verantwortlichen damals Bestechlichkeit vorwarf. Ob zu Recht oder Unrecht, kann ich nicht beurteilen. Will ich auch gar nicht.«
»Und was genau wollte Götze?«
»Ich glaube, er wollte eine Art öffentliche Erklärung zu diesem Thema. Ein Schuldeingeständnis von Karl Hüffart, dass Schmiergelder gezahlt wurden. Aber so ganz genau weiß ich es nicht mehr, es schien mir damals nicht so wichtig.« Er sah aus dem Fenster, auch wenn da nichts zu sehen war außer einem trostlosen Parkplatz. »Mir ging es um das Kind. Um Jan. Und dass der für so eine erbärmliche Scheiße sterben musste, damit werde ich nie klarkommen.«
»Ich auch nicht«, sagte Wencke.
»Ich erinnere mich noch genau an Sie, wie Sie damals mitten in der Nacht vor meinem Schreibtisch gestanden und gezittert haben. Sie haben immer gesagt, das wäre wegen des kalten Wassers.Aber ich wusste, Sie waren fertig mit den Nerven. Der tote Junge auf dem Boot, Sie dachten, Sie könnten ihn retten, und haben alles gegeben. Dass es nichts gebracht hat, hat Sie fast verrückt gemacht. Sie waren so jung und so verzweifelt. Das hat mich damals sehr berührt.« Erst jetzt wandte er den Blick wieder ins Zimmer. »Ist es nicht so? Je länger wir in diesem Job sind, je öfter wir in Leichensachen ermitteln, desto weiter entfernen wir uns von dem, was wir anfangs werden wollten.« Er sprach aus, was
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