Götterfall
dem Fenster. Na klar erinnerten die sich. »Herr Mahlmann, ich weiß noch genau, wie Sie diesen jungen Arzt ausgequetscht haben. Welche Chancen Doro habe, wie lange man bis zu ihrem Erwachen warten müsse, ob die Bewegung ihres kleinen Fingers nicht vielleicht doch bedeuten könnte, dass alles wieder so wird wie früher. Da kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, das Sie in puncto Ursache so überhaupt keinen Wissensdurst verspürt haben.«
Wieder war es Frau Mahlmann, die das sture Schweigen nicht aushielt. »Wir vermuten, es geschah aufgrund einer Thrombose …«
»Doro und Thrombose?« Wencke dachte an ihre sportliche Freundin, topfit, Beine wie eine Gazelle, da waren Stützstrümpfe undenkbar. »Nie im Leben!«
»Eine Beckenvenenthrombose, die merkt man nicht unbedingt, und dann …«
Was Herr Mahlmann von der Stunde der Wahrheit, die seine Frau nun eingeläutet hatte, hielt, war ihm deutlich anzusehen. Trotzdem verzichtete er jetzt auf ermahnende Gesten.
»Was genau ist passiert?«
»Dorothee war bei uns zu Hause. Nach der ganzen Aufregungin Bad Iburg brauchte sie wohl etwas Ruhe und Abstand. Am späten Nachmittag wollte sie in den Herrenhäuser Gärten joggen gehen. Stunden später lag sie im Hausflur, sie hat kaum noch geatmet, ihre Augen waren …« Der Rest des Satzes verschwand im Mineralwasserglas, das Frau Mahlmann sich mit zitternden Händen an den Mund führte.
Wencke konnte nicht glauben, was ihr da gerade aufgetischt wurde. »Eine solche Krankheit wäre doch aufgefallen in der Akademie. Wir haben uns ein enges Zimmer geteilt. Und Doro war absolut fit, beim Zirkeltraining ist sie uns immer allen davongesprintet.«
Wieder kramte der Anwalt ein Attest hervor, es war die dritte Seite desselben Gutachtens, und dieses Mal schaute Wencke auch genauer hin. Natürlich hatte sie nie Medizin studiert, doch wie ein medizinisches Gutachten auszusehen hatte, wusste sie aus Kripozeiten. Und dieses hier war zweifelsohne echt, ausgestellt von der MHH. Der unterzeichnende Arzt war ihr bekannt, damals noch Doktor, inzwischen Professor Rietberg, ein durch und durch integrer Mann, der keinen Zweifel daran ließ, dass sich bei Doro aufgrund einer veränderten Blutzusammensetzung ein oder mehrere Gerinnsel gebildet hatten, die über die untere Hohlvene und das Herz in die Lungenarterie gelangt waren.
Wencke wendete die Blätter. »Wo sind die anderen Seiten? Das Gutachten ist bestimmt noch ausführlicher gewesen, auch die zweite Seite fehlt.«
»Frau Tydmers, wir geben Ihnen diese Informationen mehr oder weniger freiwillig, auch wenn sie für meine Mandanten sehr persönlich sind. Sollten Sie uns zutrauen, dass wir nicht alles Wissenswerte vorlegen, dann kommen Sie bitte an einem anderen Tag mit einem entsprechenden Beschluss in meine Kanzlei.«
Der Anwalt wusste nur zu genau, dass Wencke ein solchesRichterschreiben kaum würde erwirken können. Schließlich gab es keine seriösen Belege, die eine offizielle Ermittlung rechtfertigten. Sie musste also mit dem arbeiten, was die Mahlmanns von sich aus offenlegten, auch wenn wesentliche Erklärungen fehlten.
»Warum diese veränderte Blutzusammensetzung?«, fragte sie nach. »Davon muss Doro doch was mitbekommen haben.«
»Wir gehen davon aus, dass sie, wenn überhaupt, noch nicht lange von diesen Komplikationen wusste. Der Thrombus kann sich eventuell durch den Sport gelöst haben …«
Frau Mahlmann begann zu schluchzen. Sie tat Wencke leid, wirklich, nicht erst jetzt. Doros Eltern waren schon seit zwanzig Jahren arm dran.
»Haben Sie jemals überlegt, ob man Doro damals mundtot machen wollte? Keine Ahnung, welche Methode sich da anböte, aber die Embolie … Es gibt doch Toxine, die Einfluss auf die Blutgerinnung haben.«
Die Eltern schüttelten die Köpfe, aber nicht wirklich überzeugend. Klar hatten sie schon daran gedacht. Nicht nur einmal. Wie obrigkeitsgläubig musste man sein, um es beim Grübeln zu belassen, wenn es die eigene Tochter betraf?
»Ich danke Ihnen für das Gespräch«, schloss Wencke, legte das Geld für den Orangensaft auf den Tisch und erhob sich. Die Mahlmanns folgten jeder ihrer Bewegungen lediglich mit den Augen, der Rest ihrer Körper schien inzwischen mit der Bank verschmolzen zu sein. Wer weiß, vielleicht würden die beiden für den Rest ihres Lebens hier sitzen bleiben und den Gedanken nachhängen, denen sie bislang davongerannt waren. Auf halbem Weg zur Tür knickte Wencke ein, drehte um, schaute die beiden an. Sie
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