Götterfall
Unmenge von Gletscherwasser in die Tiefe.«
»Und welche mystische Bedeutung hat der Ort?«
»Übersetzt bedeutet der Name ›Götterfall‹. Der Sage nach hat hier Þorgeir – ein wichtiger isländischer Staatsmann – vor tausend Jahren unter Zwang seine heidnischen Götter in die Fluten geworfen und allen falschen Götzen abgeschworen.« Siepackte die Papiere wieder zusammen und verstaute alles in ihrer Tasche. Dann schaute sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Sie sollten sich beeilen, Frau Tydmers, in dreißig Minuten fahren wir los.« Lena Jacobi stand auf und ging.
Wencke seufzte und wünschte sich für einen Moment nach Hannover, sogar an den Schreibtisch im LKA. Warum hatte sie von dieser Rundreise nichts gelesen? So eine Tour klang nach Übermüdung, Rückenschmerzen und dem ständigen Stress, bloß nichts im Hotelzimmer liegen zu lassen. Aber wenn diese Insel am Rande des Polarmeeres tatsächlich ein Sehnsuchtsort war, dann gab es sicher auch etwas zu entdecken. James-Bond-Kulissen, Gletscherseen, Wasserfälle, Elfenwelten – mach dich locker, Wencke! Fang mal an, das Ganze hier als willkommene Abwechslung zu genießen!
Sie trank noch einen Schluck Tee und verließ als letzte der Gäste den Frühstücksraum.
Der Aufzug war lahm, der Gang zu ihrem Zimmer lang und mit rostrotem Teppich ausgelegt. Wencke sah eben noch ein zierliches Hausmädchen ihre Tür schließen und wunderte sich, dass der Service schon so zeitig mit dem Putzen begann. Doch das Bett war ungemacht, die Handtücher lagen noch feucht in der Dusche. Dafür wartete auf ihrem kleinen Schreibtisch ein Brief, der zuvor nicht dort gelegen hatte, ganz bestimmt nicht, denn diesen Umschlag mit dieser Handschrift hätte sie auf jeden Fall bemerkt.
Sofort war die Müdigkeit passé. Würde das nie aufhören? Musste sie auch hier damit rechnen, täglich Post von Doro in den Händen zu halten?
Eines stand fest: Ihr Verdacht, dass Götze hinter allem steckte, war nicht zu halten. Frankie befand sich in Polizeigewahrsam und kam als Absender nicht infrage. Aber wer sonst war Wencke so dicht auf den Fersen, dass sogar ein verschlossenes Hotelzimmer kein Hindernis war?
Wencke machte kehrt, rannte den Gang entlang, durch den das falsche Zimmermädchen verschwunden war und an dessen Ende ein karges Treppenhaus nach unten führte. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und fand sich schließlich im Wäscheraum wieder. Schneeweiße Laken stapelten sich zu akkuraten Quadern zusammengefaltet bis fast an die Decke, daneben Handtücher, Bademäntel, Tagesdecken und viele neue bunte Fläschchen für die Minibar.
»Hello?«, rief Wencke. Hinter der großen Wäschemangel erhob sich eine Asiatin. »Sorry, can you help me? I’m looking for the chambermaid.« Doch da konnte sie suchen, wie sie wollte, hier war keine weitere Person. Eventuell gab es noch irgendwo zwischen den vollgepackten Regalen einen weiteren Ausgang, doch sollte Wencke wirklich wie eine Verrückte durch die Katakomben des Hotels rennen?
»We do not have any chambermaids«, informierte die sichtlich eingeschüchterte Asiatin. »There are only three men cleaning the rooms. Shall I call one of them?«
»No, thank you.« Wencke lehnte sich gegen einen Schrank und atmete durch. Sie war sich sicher, eine Frau gesehen zu haben. Eine Postbotin, verkleidet als Zimmermädchen. Doch wer immer das gewesen war, hatte genügend Zeit gehabt, von hier zu verschwinden. Durch einen Lieferantenausgang, einen Fluchtweg oder auch ganz entspannt an der Rezeption vorbei durch den Haupteingang. Wencke hatte einfach nicht schnell genug reagiert.
Und deswegen stand sie hier, atemlos, ratlos, in der Hand noch immer Brief Nummer vier. Am liebsten wäre Wencke für den Rest des Tages in diesem Keller geblieben, zwischen Stapeln von Bügelwäsche. Sie wusste, wenn sie den Brief erst gelesen hätte, wäre sie zu k. o., um sich der Welt da oben zu stellen.
Urð
[Polizeischule Bad Iburg, Zimmer 247,
23. Januar 1994, frühmorgens]
Beiße auf Granit. Versuche zwar, Kontakt zu F.s Leuten aufzunehmen, doch die warten nicht gerade auf mich. War schwer genug, überhaupt jemanden zu finden, denn ich kannte nur die Vornamen und wußte, daß sie sich unregelmäßig im »Grünen Jäger« treffen, einer Kneipe in Osnabrück, wo weder gestriegelte Schlipsträger noch Typen wie F. besonders auffallen. Jetzt sehen sie sich natürlich nicht mehr, wo einer von ihnen den Kopf hingehalten hat. Jetzt bröckelt die Gruppe. Einer war
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