Götterfall
grauen Himmel starten sehen. Ansonsten schien das kleine Gasthaus in einem eher tristen Industriegebiet zu liegen: Eckige, schmucklose Zweckbautensäumten zwei schnurgerade Straßen, die sich am Hotelparkplatz kreuzten. Der leichte Fischgeruch, den sie vorhin beim Öffnen ihres Zimmerfensters wahrgenommen hatte, ließ darauf schließen, dass sie sich ganz in der Nähe des Meeres befanden, und tatsächlich funkelte zwischen zwei Häusern ein kleines bisschen Nordatlantik. Vom viel beschworenen Zauber des Landes war jedoch absolut nichts zu erahnen.
»Frau Tydmers?« Eine junge Frau, höchstens zwanzig und ringsherum ein wenig mollig, stand neben Wenckes Tisch und streckte die Hand aus. »Ich bin Lena Jacobi und so etwas wie Ihr persönlicher Island-Guide. Bitte nennen Sie mich einfach nur Lena.«
Wencke probierte es mit einem Lächeln, auch wenn sie für Mimik eigentlich viel zu müde war. »Sie sind aber keine Einheimische, oder?«
»Nein, ich bin Deutsche und derzeit als Volontärin bei AIT.« Wencke musste sehr begriffsstutzig geschaut haben, denn Lena Jacobi fügte erklärend hinzu: » AlumInTerra . Meine Firma ist Hauptsponsor und Mitveranstalter des Symposiums und ich bin in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit tätig.« Sie zeigte auf den leeren Stuhl gegenüber. »Darf ich?«
»Bitte!« Es gab schlimmere Sitznachbarn, das wusste Wencke seit dem gestrigen Flug. Sobald die Räder des Fahrwerks den isländischen Boden berührt hatten, war Götze in Handschellen abgeführt worden. Sein finsterer Blick, seine uneinsichtige Haltung, alles erinnerte an die Verhaftung vor zwanzig Jahren – das Ganze musste Götze wie ein Déjà-vu vorgekommen sein.
Mitleid empfand Wencke nicht. Er hatte sich wirklich wie ein Verrückter aufgeführt, und obwohl sich Götzes Verhalten nach dem Zusammentreffen mit dem senilen Hüffart schlagartig gemäßigt und er sogar nahezu handzahm auf einem zugewiesenen Sondersitz und an den kräftigsten aller Flugbegleiter gekettet Platz genommen hatte, war es keinem der Passagiere anschließendmöglich gewesen, den Restflug zu genießen. Allen stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Und die Hoffnung, dass dieser Typ mit den Zottelhaaren bis zur Landung halbwegs die Nerven behielt.
Was die Polizei mit Götze anschließend angestellt hatte, entzog sich Wenckes Kenntnis. Und sie war auch nicht sonderlich scharf darauf zu wissen, wo der Mistkerl steckte. Kurz hatte sie versucht, zu Silvie und ihrem Mann vorzudringen, um zumindest klarzumachen, dass diese Zusammenkunft nicht ihre Idee gewesen war. Doch das Sicherheitspersonal am Flughafen hatte ihr keine Chance gelassen.
Inzwischen hatte Lena Jacobi Platz genommen und ihre Ledertasche auf den Beinen abgestellt. Etwas zerstreut suchte sie nach irgendwelchen Papieren. »Na, wo stecken die denn …« Sie wirkte wie ein Mauerblümchen, das kurz davorstand, sich zu Prachtvollerem zu entfalten. Die halblangen, lockigen Haare wären ein echter Hingucker, man müsste nur etwas damit anstellen. Wencke war keine Typberaterin, aber hier hätte es wirklich nur weniger Handgriffe bedurft – ein bisschen Farbe, die Klamotten weniger beige, die pummelige Figur etwas vorteilhafter betont, dann würde Lena Jacobi nicht so aussehen, wie man sich die Volontärin bei einem Leichtmetallverarbeitungsbetrieb vorstellte. Selbst wenn sie es nun mal tatsächlich war.
»Wir werden heute eine kleine Tour durch die Hauptstadt machen. Sie werden Reykjavik lieben. Ein bisschen skurril, ein bisschen romantisch. Am Hafen schauen wir uns die neu erbaute Konzerthalle Harpa an und machen einen Bummel durch die nahe gelegene Einkaufsstraße Laugavegur. Anschließend werden wir zum Perlan fahren, einem Warmwasserspeicher auf den Hügeln der Stadt, von dort haben wir dann einen prächtigen Ausblick auf die gesamte Bucht. Dort ist außerdem ein ganz spannendes Museum untergebracht.« Während Wenckes persönliche Island-Führerin pflichtbewusst die Sehenswürdigkeitenaufzählte, breitete sie einen kleinen Stadtplan aus und wies mal hierhin, mal dorthin. Schließlich blieb der Finger mit dem sehr kurz geschnittenen und unlackierten Nagel auf einem Punkt mittendrin liegen. »Als Höhepunkt wird am Abend im wohl berühmtesten Gebäude Islands, in der Hallgrimskirkja , die offizielle Eröffnung des Symposiums stattfinden. Das isländische Sinfonieorchester wird in der Stadtkirche passend zum Thema musikalische Umsetzungen der germanischen Mythen spielen.«
»Also Wagner?«,
Weitere Kostenlose Bücher