Götterfall
brennend. Irgendwann würde sich hoffentlich die Gelegenheit ergeben, die kleine, weiße Tablette, die nun in ihrer Jeans verstaut war, zu analysieren. Jede Wette, dass die Pille eher Hüffarts Demenz entgegenwirken sollte, die Silvie nach wie vor stur abstritt.
Dass dieses längst überfällige Treffen ungut enden würde, war vorauszusehen gewesen. Jarle hatte schon recht, das Leben ließ sich in einigen Kapiteln tatsächlich berechnen. Gerade als Silvie sich ächzend erhob, betrat eine deutlich angeschwipste Symposiumsteilnehmerin den Raum und beraubte sie der Möglichkeit, sich noch ein wenig über die Erinnerungen an eine Nacht vor zwanzig Jahren zu streiten. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen.
Wencke sparte sich das feuchtfröhlich-europäische Miteinander im Speisesaal, ihr schwirrte der Kopf – und sie war sich ziemlich sicher, auch der nächste Tag würde unangenehme Überraschungen bereithalten. Einen neuen Brief von Doro beispielsweise. Und dann stand ja noch das Treffen mit Götze an, sollte dieser bis dahin nicht von der Polizei aufgegriffen worden sein.
All das jagte ihr heute allerdings keine Angst mehr ein. Dazu war sie einfach zu fertig.
Skuld
[… noch drei Tage …]
Die Wahrheit ist ein Eisberg.
Sie mag gewaltig und ehrfürchtig vor einem auftauchen, unumstößlich und klar. Doch für den Betrachter ist immer nur der kleinste Teil sichtbar, lediglich zehn Prozent, der Rest schwimmt unterhalb der Oberfläche und kann bestenfalls erahnt werden.
Dazu bleibt sie niemals, wie sie ist, ändert ihre Form nach Lust und Laune. Wenn der Betrachter glaubt, schon alles gesehen zu haben, verlagert sich ihr Gewicht, vielleicht weil ein Teil, vom Licht beschienen, in sich zusammengeschmolzen ist, vielleicht weil die Strömungen, von denen sie getragen wurde, eine neue Richtung eingeschlagen haben. Was vorher rund und eben war, ragt Sekunden später als sperrige Kante empor.
Sie dreht sich plötzlich um sich selbst und wer ihr zu nah gekommen ist, wird mit in die Tiefe gerissen.
Die Wahrheit ist ein Eisberg.
Nur scheinbar in einem Stück geformt, tatsächlich aus vielen Schichten bestehend, die alle wiederum Versionen anderer Zeiten sind. Entstanden in Jahrtausenden, im Kern älter als die Menschen, die die verborgenen Geheimnisse heute ergründen wollen. Nur die Götter kennen das Eis seit dem Moment seiner Entstehung. Sie wissen, wie die Welt zu der Zeit aussah, als sich der Aggregatzustand änderte, Flüssiges erstarrte und die Zeit gefror. Gab es Krieg oder Frieden, Hunger oder Wohlstand, Angst oder Zuversicht?
Zuerst das prächtige Eisblau, unbeschreiblich rein, die wahrhaftige Farbe. Das Sonnenlicht wird vom gefrorenen, zum Eisberg gepressten Wasser verschluckt – bis auf das blaue Spektrum. Nur wenn die Oberfläche glatt und eben ist, zeigt sich diese schönste aller Reflektionen. Ein einziger Makel, ein Riss oder Splitter zerstört die optische Sensation, verscheucht das Blau.
Dann gibt es die graue oder schwarze Schicht, schmutzig und mürbe bricht sie das Helle und Funkelnde. Sie hat auf ihrer Reise durch die Zeit Zeugen in sich aufgenommen, Partikel aus Asche und Erde, die beweisen, dass es mehr gibt als die Sonne am Himmel und die Berge aus Eis.
Schneeweiß ist am schönsten, wenn die Sonne darauf scheint, die raue Oberfläche zum Glitzern bringt wie tausend Sterne. Oft bildet es eine helle Lage zwischen den anderen Facetten, die erst durch den Kontrast zum Strahlen gebracht werden. Weiß ist keine Farbe, sagt die Wissenschaft, Weiß ist das Ergebnis, wenn alle Spektren des Lichtes verschluckt werden. Weiß ist das Gegenteil von Farbe. Weiß ist das Nichts.
Die Wahrheit ist ein Eisberg.
Sie schwimmt langsam der Unendlichkeit entgegen und wird sich mit ihr vereinen.
Die Nornen sind gekommen. Sie suchen die Wahrheit. Sie folgen ihr.
Und werden sich darin auflösen.
Urð
[Polizeischule Bad Iburg, Zimmer 247,
24. Januar 1994, nachmittags]
Bin heute in Hüffarts Haus gewesen. Die Bodyguards haben meinen Polizeiausweis akzeptiert, hatten meinen Namen wohl noch nicht auf der schwarzen Liste.
Frau Hüffart saß in der Küche und trank Kaffee mit Weinbrand. Trug kein schwarz, sondern ein Sommerkleid. Im Januar! Als ich mich neben sie gesetzt habe, hat sie noch nicht mal gezuckt. Betrunken. Auf eine furchtbar müde, klaglose Art betrunken. Mein Gewissen regte sich, weil ich ihren Zustand ausnutzen wollte. Was stand im Brief, fragte ich. Sie lallte nicht, sprach eher so, als ob sie sich
Weitere Kostenlose Bücher