Götterfall
sagen?«
»Erinnerst du dich? Doro war nach dem Tod des Jungen kaum noch in der Akademie. Sie hat sich in der Zeit mit Informanten getroffen, die die politischen Hintergründe kannten.« Wencke kickte der noch immer am Boden kauernden Silvie mit Genuss das Tampontäschchen zu. »Sie muss etwas herausgefunden haben. Und als sie bei ihren Eltern in Hannover war, wurde sie fachgerecht ausgeschaltet.«
»Was für ein Schwachsinn! Als ob Karl und seine Leute sich an so einer Nummer wie Doro die Finger schmutzig gemacht hätten. Und warum auch? Es gab schließlich nichts zu verheimlichen. Du lässt dir da einen gehörigen Bären aufbinden!«
»Was ist, wenn man damals nicht auf die Forderungen der Entführer eingehen wollte, weil man sich sonst für alle Zeiten erpressbar gemacht hätte? So wurde der Tod von Jan in Kauf genommen, um halbseidene Deals in Millionenhöhe zu sichern.«
Kurz richtete Silvie sich zur Hälfte auf. »Das ist eine infame Unterstellung! Mein Mann und seine erste Frau haben ihren Sohn geliebt, mehr als alles andere auf der Welt. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Jans Leben zu retten, wären sie darauf eingegangen, ohne Wenn und Aber.«
»Übrigens war ich auch in Osnabrück und habe alte Akten studiert.« Wencke wechselte zu dem Thema, auf das es ihr eigentlich ankam. »Die meisten Polizeiberichte sind seltsamerweise verschwunden, doch ich habe trotzdem etwas ziemlich Haarsträubendes erfahren.«
»Ach ja?«
»Ich habe mich oft gefragt, wie die Polizei damals auf Frankie gekommen ist. In den wenigen Protokollen habe ich keineAntwort darauf gefunden.« Silvie räumte weiter ihre Handtasche ein. Eine Lesebrille, einen Autoschlüssel, an dem ein Plüschtier baumelte. Was diese Frau alles mit sich spazieren führte. »Doch ein Beamter konnte sich noch erinnern, wer den entscheidenden Hinweis gegeben hat: Das warst du, Silvie!«
»Ja und?«
»Du hast gelogen! Als wir den toten Jungen gefunden haben, waren wir beide die ganze Zeit zusammen. Und ich würde bei allem, was mir heilig ist, schwören, dass wir dort nichts und niemanden gesehen haben.«
»Schwör lieber nicht, du hast das falsch in Erinnerung. Wir sind zu dem Jungen gegangen, haben versucht, ihn wiederzubeleben, haben ihn mühsam an Land gezogen – und während du bei ihm geblieben bist und seltsamerweise versucht hast, ihn mit einer Jacke zu wärmen, habe ich den Umkreis nach Verdächtigen abgesucht.«
»Das wüsste ich aber!«
»Du standst unter Schock, Wencke. Ich habe das irgendwie besser weggesteckt und mich entsprechend professionell verhalten.« Sie schaffte es tatsächlich, unter einem Waschbecken herumzukriechen und dabei arrogant zu wirken. Respekt. »Frankie saß hinter einem Gebüsch und hat uns beobachtet. Als er mich bemerkt hat, ist er abgehauen. Und das habe ich den Kollegen am nächsten Tag genau so erzählt.«
»Und weshalb hast du uns deine ach so professionelle Beobachtung verschwiegen? Wir waren deine engsten Bekannten dort, und Doro hing in der Geschichte mit drin!«
»Ebendeshalb! Ich wusste, auf welcher Seite ihr steht. Womöglich hättet ihr mir das Ganze noch ausgeredet. Zwei gegen eine, und ich hatte damals noch nicht das Selbstbewusstsein, mit dem ich heute ausgestattet bin. Erst am nächsten Tag hatte ich überhaupt den Mut gefunden, die Sache zu melden.«
»Ich glaube dir kein Wort!« Da sah Wencke das Ding, es wardirekt zwischen ihre Turnschuhspitze und den chromfarbenen Treteimer gerutscht: eine Pillendose.
Aus dieser flachen, ovalen Samtschatulle hatte Silvie ihren Mann heute den ganzen Tag gefüttert, das war Wencke nicht entgangen. Ganz langsam – eine hektische Bewegung wäre zu sehr aufgefallen – schob sie ihre Sohle über die Dose und zog sie zu sich heran. Dann bückte sie sich. »Soll ich dir vielleicht zur Hand gehen?«
»Herzlichen Dank, das kommt ein bisschen spät, meine Liebe«, keifte Silvie. Doch da hatte Wencke die Dose bereits geöffnet und eine der Pillen unbemerkt in die Gesäßtasche ihrer Jeans geschmuggelt. Zum Glück hatte sie heute Abend kein Kleid angezogen!
»Hier«, sie reichte Silvie das ovale Ding, »eure kleine Reiseapotheke. Es scheint deinem Mann ja doch nicht so gut zu gehen, wenn er so oft Medikamente schlucken muss …«
»Nicht, was du denkst! Karl ist noch immer voll auf der Höhe.« Silvie entriss ihr das Teil genervt. »Die Medikamente sind bloß für eine harmlose Schilddrüsensache.«
Ob das der Wahrheit entsprach, interessierte Wencke
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