Götterfall
zu. Sein kastenförmiger Körper schimmerte von allen Seiten anders, im Norden blau, im Süden schwarz, dazwischen marmorierte Streifen in Weiß und hellem Blau. Unglaublich, dass dieser gewaltige Eisbrocken lediglich ein Zufallsprodukt sein sollte, ein abgebrochenes Stück des Vatnajökull , eines Gletschers, der in nicht einschätzbarer Entfernung in den Nordatlantik kalbte. Man hätte ihn auch für ein architektonisches Kunstwerk halten können. Genau wie die flache, runde Scheibe nur fünfzig Meter weiter links, ästhetisch ausgehöhlt, als wäre jede einzelne Kerbe von einem Bildhauer zuvor skizziert worden. Dass sich die Formen im glatten See spiegelten und von der heute makellosen Junisonne beschienen wurden, verstärkte den Eindruck um ein Vielfaches.
Wencke stand am flachen Ufer und heulte. Das war alles zu viel. Sie heulte selten, höchstens einmal im Monat, wenn der gesunkene Östrogenspiegel ihr weismachen wollte, dass ihre Lebenssituation einfach lachhaft war. Aber jetzt heulte sie wegen des Briefs, der heute Morgen kurz vor der Abreise – als sie schon nicht mehr damit gerechnet hatte – an der Rezeption des Hotel Borg für sie abgegeben worden war. Aus dem sie erfahren hatte, dass Doro damals vor zwanzig Jahren schwanger gewesen war. Das erklärte alles. Deshalb hatte ihre Freundin nicht lockerlassen können. Sie hatte beweisen wollen, dass der Mann,der zum Vater ihres Babys werden würde, nicht der abgebrühte und grausame Kindermörder war, zu dem der Rest der Welt ihn erklären wollte. Doros Verzweiflung musste unfassbar gewesen sein. Das hatte Wencke erst heute Morgen so richtig kapiert. Und wenn dann noch zu allem Unglück so ein Naturspektakel vor einem auftaucht, eines von der Sorte, das man nie für möglich gehalten hätte, dann rollen die Tränen eben hemmungslos.
Hinter ihr reihten sich die Reisebusse aneinander wie Dominosteine und vor ihr kreuzten Amphibienboote zwischen den gefrorenen Skulpturen. Von Götze war nichts zu sehen.
»Wir gehen auf das nächste Boot, in fünf Minuten startet unsere Rundfahrt«, rief Lena Jacobi und die Truppe setzte sich folgsam wie immer in Bewegung.
Aber Wencke blieb stehen und wischte sich mit einem Papiertaschentuch das Gesicht trocken. Sie schaute auf die Uhr: Es war halb eins, wenn Götze jetzt nicht bald auftauchte, würde sie nicht länger warten. Dabei hatte sie noch nie ein so großes Bedürfnis verspürt, mit diesem Mann zu reden. Seitdem sie Doros Notizen im Bus gelesen hatte, brannten Fragen auf ihrer Zunge: Hatte er von dem Kind gewusst? Was bedeutete es ihm, dass nicht nur Doro, sondern auch das ungeborene Wesen in ihrem Bauch das Leben verloren hatte? Und wahrscheinlich alles nur für ihn, um seine Unschuld zu beweisen, so war sie ins Fadenkreuz geraten. Doch wer hatte sie im Visier? Wer waren die , von denen im Brief die Rede gewesen war? Etwa Alf Urbich, Ex-Politberater und heutiger Vorstand bei AlumInTerra ? Wenn sie Glück hatte, würde Götze ihr weiterhelfen, deswegen sehnte Wencke ihn geradezu herbei.
Eventuell tauchte er aber auch gar nicht mehr auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei ihn inzwischen gefasst hatte, war ziemlich groß. Vielleicht war der Treffpunkt doch nicht so optimal gewählt, es gab nämlich nur eine einzige Möglichkeit, von Reykjavik zum Jökulsárlón zu gelangen: die sogenannte Ringstraße.Eine zwar zweispurige, aber trotzdem ziemlich schmale Asphaltstrecke, die auf den zurückliegenden vierhundert Kilometern landschaftlich so ziemlich alles geboten hatte, von staubgrauen Steppen bis zu paradiesgrünen Tälern. Enge Serpentinenkurven lösten schnurgerade Pisten in totaler Einöde ab. Spektakulär für Busreisende – verhängnisvoll für flüchtige Straftäter. Es wäre ein Leichtes gewesen, Götzes Fahrt zu stoppen.
Doch plötzlich stand er wie aus dem Boden gewachsen vor ihr. Er trug einen olivgrünen Parka und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. »Ich hab uns zwei Tickets besorgt. Deine Leute steigen gerade ein und wir nehmen das Boot danach, zwischen lauter fremden Touristen sind wir vielleicht ungestört.«
Wencke nickte. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder beunruhigt sein sollte. Vor weniger als achtundvierzig Stunden hatte dieser Mann ihr die Luft abgeschnürt, jetzt lud er sie auf eine Bootsfahrt ein. Schweigend beobachteten sie die anderen Mitglieder der Reisegruppe, die sich brav in klobige Schwimmwesten wickeln und wie Vieh auf das noch an Land wartende Boot mit Rädern
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