Götterfall
selbst synchronisiert, als ob sie abwartet, welches Wort zu ihren Lippenbewegungen paßt: »Die Wahrheit wollten sie.«
Ich habe genauer nachgefragt: Welche Wahrheit?
»Wir dachten, sie wollen Millionen vom Konto, und dann fordern sie bloß die Wahrheit. Daß Jan zurückkommt, bekommen wir also quasi umsonst.«
Sie hat mich noch gefragt, ob ich glaube, daß die Wahrheit immer umsonst ist. Was für eine Frage! Und das mit einer leeren Weinbrandflasche neben sich.
Wie hat Ihr Mann reagiert?
Die Antwort hat gedauert. »Er wollte tun, was sie verlangen.« Dann hat sie über Jan gesprochen, und mir ist fast schlecht geworden, weil so viel Liebe in dem war, was sie erzählt hat. Das hätte ich einer Familie wie den Hüffarts nicht zugetraut, auch wenn das gemein ist.Natürlich lieben auch Politiker ihre Kinder. »Karl hat mit Jan am letzten Wochenende Drachen steigen lassen, auf der Wiese beim Sanatorium. Sie haben den Lenkdrachen selbst gebaut, hier bei uns im Keller, und dann sind sie am Sonntag nach der Kirche losgezogen und waren so stolz, weil er fliegen konnte. Jan hat immer wieder gesagt, Mama, höher als der Turm vom Schloß, wirklich, höher als der Turm vom Schloß. Dann hat er noch gemeint, er würde auch gern so in die Lüfte steigen wie der Drachen, und mein Mann hat ihm versprochen, ihn mal in den Ferien auf eine Geschäftsreise mitzunehmen, damit er die Welt auch mal von oben sehen kann.«
Ja, echt, ich kann mich fast an jedes einzelne Wort erinnern. Es war so eindringlich. Weil die Frau in ihrem Sommerkleid mit der Mariacron-Flasche so dahergeredet hat, als wäre alles noch in Ordnung in ihrer Familie. Sie hat noch betont, ihr Mann würde für Jan alles tun auf der Welt, alles, sogar seine Karriere an den Nagel hängen.
Warum ist Ihr Sohn dann tot, habe ich gefragt. Wenn man die Forderungen erfüllt, werden Entführungsopfer doch freigelassen.
»Die waren dagegen«, sagte sie. »Denen war es egal, was mit unserem Sohn passiert.«
Wer die sind, wollte ich wissen.
Sie hat mir etwas umständlich erklärt, das wären die Leute, die sich ständig einmischen, mit denen man sich immer zu besprechen hat, selbst bei den intimsten Angelegenheiten. Sie könnte noch nicht einmal die Vorhänge aussuchen, die ihr am besten gefallen, immer müsse sie fragen, sich erlauben lassen, als wäre sie ohne die Berater nicht lebensfähig.
Ich bat sie um einen Namen.
»Alf Urbich ist der Schlimmste«, hat sie mir verraten. »Aber sagen Sie das keinem, bitte, der kann sehr unangenehm werden.« Ich kenne Urbich. Sein Name taucht immer in Nebensätzen auf, wenn von Hüffart die Rede ist. Irgendein Strippenzieher im Hintergrund. Einer, der dem Parteivorsitzenden ins Ohr flüstert, was er zutun hat, hat F. mal gesagt. Ein Bild habe ich nicht vor Augen. Aber es schockiert mich, daß Frau Hüffart so einen Mordsrespekt vor diesem Menschen hat. Richtige Angst.
Während sie den Verlust ihrer Privatsphäre beklagt hat, ist Frau Hüffart aufgestanden und hat eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und ein Glas aus der Vitrine geholt. Hat mir wohl angesehen, daß ich zur Zeit eher keinen Weinbrand trinke.
»Ist er der Vater?« fragte sie mich. »Der Mörder meines Sohnes ist der Vater Ihres Kindes?«
Hab keine Ahnung, woher sie das alles weiß, sie ist der erste Mensch überhaupt, der bemerkt, daß ich schwanger bin.
Das hat mich umgehauen. Hab dann auch geheult. Wir beide am Küchentisch, die Hüffart und ich. Wegen der ganzen beschissenen Zukunft und weil die Väter unserer Kinder tief im Dreck stecken und alles kaputtmachen.
Irgendwann kam dann Karl Hüffart rein. Der ist nicht groß und nicht breit, aber trotzdem eine Erscheinung, die den Raum füllt. Wer ich wäre und was ich wolle, hat er gefragt.
»Eine gute Freundin«, hat Frau Hüffart gelogen.
Ihr Mann war skeptisch, normalerweise kennt er doch alle ihre Freundinnen, hat er behauptet. Aber die Hüffart hat mich nicht verpetzt, sie ist einfach dabei geblieben. Und weil sie so schrecklich betrunken war, hat er keine Lust gehabt, noch weiter nachzubohren, glaub ich. Außerdem sah er auch fix und fertig aus. Fast wie ein Mensch.
Ich bin dann raus, bevor die Sache aufgeflogen ist.
Und als ich wieder im Zimmer war, habe ich mich übergeben. Wann hört das endlich auf? Bin doch schon im vierten Monat.
D.
Verðandi
[15. Juni, 12.25 Uhr, Jökulsárlón, Südwestufer, Island]
Der vereiste Wolkenkratzer schwamm leise und unendlich langsam auf die Hängebrücke
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