Götterfall
AlumInTerra angenommen.
Und was war aus der Formel geworden? Aus seiner Vision von der weltweiten Energieverschiffung?
Das habe nicht so funktioniert, wie man sich das ursprünglich vorstellte. Mehr war aus ihm in der Sache nicht rauszubekommen gewesen.
Und warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Wencke war an dieser Stelle lauter geworden, denn es war offensichtlich, dass Jarle hier ganz bewusst etwas zu verschweigen versuchte.
Sie stellte das Wasser ab und blieb noch eine Weile dampfend in der Duschkabine stehen. Die Wunden schmerzten, denn die Nässe hatte die Haut aufgeweicht, wahrscheinlich würde es gleich wieder zu bluten beginnen.
War es der Wein gewesen? Oder diese eigenartige Nacht ohne Dunkelheit? Die seltsame Stimmung, weil sie ein paar Stunden zuvor knapp dem Tod von der Schippe gesprungen und einfach nur verletzt und sterbensmüde gewesen war? Irgendwann hatte sie jedenfalls aufgehört, ihm Fragen zu stellen, obwohl noch viele Antworten nötig gewesen wären, um ihm genügendzu vertrauen. Nahezu besinnungslos hatte sie sich in einer Umarmung wiedergefunden und keine Zweifel mehr verspürt. Das war absolut nicht ihre Art!
Gestern noch war kurz, aber heftig, dieser Gedanke aufgeblitzt: Etwas ist seltsam an diesen Briefen! Etwas passt vorn und hinten nicht zusammen! Doch dann hatte Jarle sie eingehüllt in seine Nähe, eingesponnen mit seinen Worten, als wäre er ein Hypnotiseur.
Wencke stieg aus der Dusche und wickelte sich in das dicke Frotteelaken, dann bastelte sie sich aus einer Menge Klopapier notdürftige Bandagen für die Hände und suchte in der Reisetasche nach einem halbwegs sauberen Kleidungsstück. In der Seitentasche steckten die Briefe, alle fünf, zu einem kleinen Paket geschnürt. Sie setzte sich auf den Badezimmerteppich und breitete jedes einzelne Blatt vor sich auf den Fliesen aus. So viele Zeilen in dieser charakteristischen Schrift. Die meisten Notizen hatte Wencke mehrfach gelesen, einige Passagen konnte sie bereits auswendig. Hier vor ihren nackten Füßen lag das Vermächtnis ihrer Freundin. Ganz zum Schluss legte sie das Foto daneben. Die eingekreiste Doro mit ihren lockigen Haaren und diesem unbedingten Lebensdurst im Gesicht. Was wollte sie damals mit diesen Notizen erreichen? Warum hatte sie sich die Mühe gemacht, alles so ausführlich aufzuschreiben? Und für wen hatte sie das getan? Für das ungeborene Kind?
»Ich liege wach, traue mich aber nicht, die Mädels zu wecken. Was soll ich ihnen sagen? Daß ich meinen eigenen Freund verdächtige?«
Wencke versuchte, sich Dorothee Mahlmann vorzustellen, mit einem Schreibblock auf den Knien und einem Kugelschreiber in der Hand, nachts, ohne ihre Zimmergenossinnen zu wecken. Wäre das überhaupt möglich gewesen? Vielleicht hatte Doro auch unter der Bettdecke geschrieben, mit einer angeknipsten Taschenlampe … Ein schiefes Bild! Hatte ihre Freundinsich damals im Unterricht nicht ständig einen Stift borgen müssen, weil sie zu chaotisch gewesen war, ihre Sachen zusammenzuhalten? Ja, so war Doro doch gewesen, so und nicht anders. Oder?
»Wencke und Silvie, Polizeianwärterinnen mit dem Glauben an Gerechtigkeit und das Gute im Menschen, die können da nicht mit drinhängen.«
War das Doros Sprache gewesen? Hatte sie tatsächlich solchen Gedanken nachgehangen? Glauben an Gerechtigkeit – hatte Doro so etwas von ihren Zimmergenossinnen eingefordert?
Die wirklichen Erinnerungen an diese Frau hatten sich inzwischen mit dem vermengt, was Wencke gelesen hatte. All diese Notizen hatten das Bild von Doro verändert.
War es das, was Wencke an diesen Briefen störte?
»Sie hat mich noch gefragt, ob ich glaube, daß die Wahrheit immer umsonst ist. Was für eine Frage!«
Doro hatte recht: Was für eine Frage! Wie viel war die Wahrheit wert? Zwei Menschenleben? War Doro wirklich bereit gewesen, alles aufs Spiel zu setzen für eine Wahrheit, die außer ihr niemand wirklich wissen wollte? Wencke wusste es nicht, beim besten Willen nicht, es war unglaublich traurig, aber nie war ihr so deutlich geworden, wie sehr sie ihre Freundin bereits vergessen hatte.
Es klopfte an der Badezimmertür, die Klinke bewegte sich, doch Wencke hatte vorhin wohlweislich abgeschlossen. Hastig stand sie auf, schob die Briefe zusammen und zog das Handtuch fester um den Körper. »Was ist?«
»Sorry, Wencke, ich will dich nicht stören, aber dein Handy hat mich geweckt. Ich hab es aus deiner Hosentasche gezogen und hab es hier. Machst du auf, damit ich
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