Götterfall
es dir geben kann?«
Sie öffnete nur einen winzigen Spalt weit, durch den er dasMobiltelefon schob. Doch bestimmt hatte Jarle zuvor auf dem Display den Namen des Anrufers gelesen: Axel! Wo sollte es enden, wenn der Tag schon so begann?
»Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt. Bei dir ist es ja noch vor acht Uhr …« Axels Stimme war so klar, als stünde er genau neben ihr. Und wenn sie ehrlich war: Sie hätte ihn jetzt gern an ihrer Seite gehabt. Auch wenn er ein Mistkerl war. Auch wenn er seit Jahren eine unmoralische Beziehung neben seiner Ehe führte. Er würde ihr Sicherheit geben. »Aber ich hatte Glück und habe heute Morgen diesen Professor Rietberg zu fassen gekriegt.«
Wencke musste sich sammeln. »Und? Konnte er sich noch an Dorothee Mahlmann erinnern?«
»Und ob! Er wusste gleich, von welchem Fall ich spreche. Er nannte sie allerdings die Lungenembolie im vierten Monat mit apallischem Syndrom .«
»Ärzte!«
»Die Sache scheint einer der ganz besonderen Fälle in seiner Karriere gewesen zu sein, deshalb war es zum Glück nicht ganz so schwierig, ihm Details aus der Nase zu ziehen.«
»Danke!« Wencke wollte so einsilbig wie möglich bleiben, denn sie war nicht sicher, ob Jarle nicht im Flur stehen geblieben war, um zu lauschen.
»Du hattest gefragt, ob der Vater des Kindes irgendwo vermerkt worden ist. Das musste Rietberg leider verneinen. Die Eltern von Dorothee Mahlmann haben damals als nächste Angehörige die Vormundschaft übernommen und alles Weitere geregelt.«
»Alles Weitere?«
»Die Verlegung der Schwangeren in das Pflegeheim, die Regelung der bürokratischen Sachen und so weiter. Die Medizinische Hochschule hat aber den Verlauf der Schwangerschaft weiterhin ärztlich begleitet.«
»Welchen Verlauf?«
»Dorothee Mahlmann konnte das Kind bis zum Ende austragen. So etwas passiert äußerst selten, die meisten Schwangeren, die ins Koma fallen, verlieren den Fötus. Aber deine Freundin war wohl körperlich in bester Verfassung, abgesehen von der irreparablen Schädigung des Gehirns. Im Mai 1994 hat sie per Kaiserschnitt eine gesunde Tochter zu Welt gebracht.«
»Nein!« Wencke musste sich auf die Fensterbank setzen. Sie brauchte einen Moment, bevor sie weiterfragen konnte: »Und weiß man, was aus dem Baby geworden ist?«
»Die Großeltern haben es direkt nach der Geburt zur sogenannten Inkognito-Adoption freigegeben. Das bedeutet, nur das Jugendamt Hannover weiß, woher dieses Kind stammt und wohin es vermittelt wurde.«
Jetzt wurde Wencke alles klar: Die verhuschten Blicke der Mahlmanns bei ihrem Treffen vor ein paar Tagen, die vorenthaltene zweite Seite des rechtsmedizinischen Gutachtens, das vehemente Abwehren weiterer Nachfragen … Doros Eltern hatten ihr eigenes Enkelkind weggegeben. Weil sich ihre Tochter gegen eine solche Entscheidung nicht hatte wehren können und der Vater des Kindes – es konnte sich dabei nur um Frank-Peter Götze handeln, nur das machte Sinn – unbekannt bleiben sollte. Was sollten sie mit einem Säugling wie diesem sonst anfangen in ihrem bürgerlichen Leben in Hannover-Herrenhausen?
Axel ließ ihr Zeit, das Gesagte zu verdauen, aber irgendwann redete er weiter: »Und weil ich dich kenne und genau weiß, welche Fragen dir als Nächstes auf den Nägeln brennen, habe ich meine Hausaufgaben sozusagen schon im Vorfeld erledigt und beim Jugendamt in Hannover um eine schnelle und unbürokratische Auskunft gebeten.«
»Du bist ein Schatz!« Mist, das war ihr aus Versehen so herausgerutscht…
»Also, der am 27. Mai 1994 in der MHH geborene weibliche Säugling der ledigen Mutter Dorothee Mahlmann wurde gleich am nächsten Tag von seinen Adoptiveltern, die in Rotenburg an der Wümme lebten, abgeholt. Diese gaben ihr den Namen Lena, der Familienname lautet …«
»… Jacobi!«
»Woher weißt du das?«
[16. Juni, 9.23 Uhr, Dimmuborgir , Island]
»Lass ihn schlafen«, sagte Lena und verließ die Höhle. Sie sah geschafft aus. Wunderschön, aber geschafft.
Wenn du über fünfzig bist und dann erfährst, dass du eine erwachsene Tochter hast, ist das wie ein Tritt in den Arsch. Hey, komm Alter, rappel dich hoch, da gibt es noch was zu holen in deinem Leben. Und wenn du sie dann triffst, diese Tochter, und du erkennst dich selbst in ihr, dein Kinn, deine etwas zu fleischigen Ohrläppchen, dann ist das wie ein Tritt in den Magen. Mensch, Alter, da fließt zum Teil dein Blut in ihren Adern, das macht dich irgendwie unsterblich. Und wenn du dann näher
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