Götterschild
Alte und auch ein paar Kranke herbei, so schnell ihre Füße es erlaubten. Wer nicht ohne Hilfe laufen konnte, wurde gestützt oder sogar getragen. Tarana ließ Thalia los und schob die Zeltplane zurück. Aus dem Inneren blickten ihnen aus großen Augen bereits ungefähr ein Dutzend Stammesmitglieder entgegen, die sich eng aneinandergeschmiegt am Boden niedergelassen hatten. Als sie das Versammlungszelt betraten, erschien es Thalia, als tauche sie in einen Teich aus Angst. Auch wenn alle, mit Ausnahme der ganz Kleinen, äußerlich den Eindruck zu erwecken versuchten, sie würden die anrückende Gefahr weitgehend gelassen erwarten, so merkte Thalia doch überdeutlich, wie das Zelt mit Furcht vollzulaufen begann, als sammle sich hier der schwarze Regen eines nächtlichen Gewitters. Auf einmal hatte sie das Gefühl, darin zu ertrinken.
»Geh nicht«, bettelte sie und klammerte sich ans Bein ihrer Mutter. »Ich halte es hier nicht aus. Lass mich nicht allein!«
Tarana ging in die Knie und setzte Arlion neben Thalia ab, dessen angstgeweitete Augen starr auf seine Schwester gerichtet waren. »Sieh dir deinen Bruder an«, sagte Tarana und ihre Gedanken wirkten ebenso beruhigend wie ihre Stimme. »Er braucht dich. Du musst auf ihn aufpassen, während ich weg bin. Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?«
Thalia blickte Arlion an. In seinem Gesicht spiegelten sich ihre eigenen Gefühle. Sein Geist wirkte seltsam eingefroren. Sie wusste, dass er ihre Furcht spürte, so deutlich, als wäre es seine eigene.
»Er sieht zu dir auf«, sprach Tarana leise weiter und strich ihr dabei übers Haar. »Du bist der wichtigste Mensch in seinem Leben, vielleicht noch wichtiger als seine Mutter. Du bist die große Schwester, die ihm alles beibringt. Wenn du dich von der Angst besiegen lässt, dann bricht für Arlion eine Welt zusammen. Ich weiß, dass du nicht nur mit deiner eigenen Furcht zu kämpfen hast, sondern auch mit der von allen anderen hier. Das ist eben die Schattenseite deiner Gabe. Aber du bist stark. Ich weiß, du kannst deine Angst überwinden. Arlion ist bei dir in guten Händen.« Sie griff nach einer dünnen Silberkette, die um ihren Hals hing, und zog daran eine graue, rautenförmige Platte unter ihrem Hemd hervor, welche etwa in der Mitte ein längliches Loch aufwies.
»Dieses Amulett hat mir einmal das Leben gerettet«, erklärte Tarana und deutete auf den Schlitz in der Mitte. »Genau hier traf mich ein Pfeil in die Brust, der mich mit Sicherheit getötet hätte, wenn seine Wucht nicht von dieser Platte aufgefangen worden wäre.« Sie zog die Kette über ihren Kopf und legte sie Thalia um den Hals. »Dieser graue Anhänger ist vielleicht nicht schön, aber er wurde mir von jemandem geschenkt, den ich sehr geliebt habe. Und er hat ihn einmal von seiner Mutter bekommen. So unscheinbar diese Platte auch sein mag, sie gab mir Kraft in dunklen Tagen und bewahrte mich vor großem Übel. Jetzt schenke ich sie dir, weil ich dich auch sehr liebe und sie dich nun behüten soll. Solange dieses Amulett um deinen Hals hängt, brauchst du keine Angst mehr zu haben, denn dir kann nichts geschehen.«
Thalia schluckte. Mit zitternden Fingern betastete sie die graue Raute, die ihr an der silbernen Kette bis zum Bauch herabhing. Sie fühlte sich warm und etwas rau an, ein bisschen wie Holz, wobei die Farbe eher zu einem Stein zu passen schien. Noch nie hatte sie sich um diesen Anhänger, den ihre Mutter stets im Verborgenen trug, Gedanken gemacht. Doch jetzt kam es ihr vor, als läge in diesem Geschenk alle Liebe und der ganze Mut ihrer Mutter. Sie brauchte ihn nur zu berühren und schon gelang es ihr, die Gedanken der anderen Menschen im Zelt aus ihrem Kopf zu verdrängen und ihre eigene Angst in den hintersten Winkel ihres Geists zu schieben. Sie nahm Arlion in den Arm und nickte ihrer Mutter tapfer zu.
Tarana lächelte. Ihre Gedanken waren warm und tröstend.
»Ich hab euch lieb«, sagte sie und küsste beide auf die Stirn. »Es wird sicher bald vorbei sein, dann komme ich sofort zurück.« Sie stand auf und verließ, ohne sich noch einmal umzublicken, mit raschen Schritten das Zelt.
Thalia saß eine ganze Weile einfach nur da und umklammerte ihren Bruder, hörte aber gleichzeitig nicht auf, mit den Fingern über das Amulett zu streichen. Mittlerweile verließ niemand mehr das Zelt, noch kam jemand von draußen herein. Thalias Blick glitt über die vielen entweder sehr jungen oder sehr alten Gesichter um sie herum und
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