Götterschild
dabei entdeckte sie schließlich Felb, der wie alle anderen bleich und schweigsam auf dem Boden hockte. Als er ihren Blick bemerkte, nickte er und reckte dann das Kinn, um ein wenig mutiger auszusehen. Aber Thalia wusste es besser.
›Wo ist Mama?‹, drang es plötzlich durch ihren Geist. Arlion schien seine furchtsame Erstarrung überwunden zu haben. Sein Blick heftete sich auf den Zeltausgang. ›Mama suchen!‹ Er versuchte, sich aus der Umarmung seiner Schwester zu befreien.
Thalia hielt ihn fest. ›Mama will, dass wir hier bleiben, Arlion. Sie kämpft gegen böse Leute. Es ist zu gefährlich draußen.‹
Arlions Gegenwehr wurde verbissener. Er hatte sich offenbar in den Kopf gesetzt, hinter Tarana herzulaufen. ›Lass los! Mama suchen.‹ Er begann, sich zu winden, wobei er eine erstaunliche Kraft entwickelte.
,Hör auf, Arlion’, schimpfte Thalia gedanklich. ›Wir müssen hier bleiben.‹ Da kam ihr eine Idee: ›Wir können ja mal unter der Zeltplane durchschauen, ob wir Mama irgendwo entdecken.‹ Kurz entschlossen kroch sie zur Seitenwand hinüber und hob den schweren Stoff an, bis sie nach draußen sehen konnte. Arlion folgte ihr sofort und schob seinen Kopf neugierig durch den Spalt.
Die Aussicht erwies sich jedoch als herbe Enttäuschung.
Das Versammlungszelt war umstanden von den Wohn- und Vorratszelten des Stammes, sodass man nicht weiter als bis zur nächsten schmutzig weißen Plane sehen konnte.
»Und, könnt ihr was erkennen?«, flüsterte es plötzlich neben ihnen. Thalia fuhr auf. Felb hatte sich herangeschlichen, da er auch einen Blick hinauswerfen wollte.
»Nein.« Thalia schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Nur Zelte.«
»Verflixt«, knurrte Felb. »Ich wollte, ich könnte beim Kampf dabei sein.«
»Ja, ich auch«, erwiderte Thalia niedergeschlagen.
»Tut mir leid, was ich heute über dich gesagt habe«, meinte Felb unvermittelt. »Ich hab mich nur geärgert, dass du mich so schnell gefunden hast.«
»Schon in Ordnung«, gab Thalia zurück. »War nicht so schlimm.«
»Aber wie machst du das denn immer?«, forschte der Junge weiter. »Keiner findet meine Verstecke so schnell wie du.«
Thalia zuckte nur die Schultern. »Arlion hat mir geholfen«, erklärte sie knapp. Sie war jetzt nicht in der Stimmung, über ihre Gabe zu sprechen, und außerdem hätte Felb es wahrscheinlich sowieso nicht verstanden.
Dieser lachte auf. »Ja, das stimmt. Wo ist der eigentlich?«
Thalia blickte entgeistert zu der Stelle, wo eben noch Arlion gelegen hatte, um nach draußen zu spähen. Er war weg. ›Arlion!‹, rief sie ihn in Gedanken. ›Wo bist du?‹
,Mama suchen’, erhielt sie augenblicklich zur Antwort.
»Mist!«, entfuhr es ihr, obwohl sie sich dafür von ihrer Mutter sicherlich einen Tadel eingefangen hätte, wenn diese in Hörweite gewesen wäre.
»Ist er nach draußen?«, erkundigte sich Felb erschrocken.
»Ja«, zischte Thalia, ließ das Amulett sicherheitshalber unter ihrem Wams verschwinden und warf sich auf den Boden, um ebenfalls hinauszukriechen. »Ich muss ihn holen.« Es machte keinen Sinn, ihren Bruder mit Worten zur Umkehr zu bewegen, da war sie sich sicher. Er konnte unglaublich dickköpfig sein.
Sie krabbelte unter der Zeltplane hindurch und sprang auf. Von Arlion fehlte jede Spur. Thalia lief um das nächste Zelt herum, aber auch dort war nichts von ihm zu sehen. Panik begann, in ihr aufzusteigen. Sie musste ihren Bruder unbedingt finden.
Plötzlich packte sie jemand an der Schulter. Vor Schreck stieß sie einen kurzen, schrillen Laut aus und fuhr herum. Felb!
»Ich habe ihn dort vorne zwischen den Zelten gesehen«, sagte der Junge mit abenteuerlustig glänzenden Augen und deutete in die entsprechende Richtung. »Den haben wir gleich.« Und schon lief er los.
Thalia hatte Mühe, dem größeren, ein oder zwei Jahre älteren Jungen zu folgen. Sie rannten noch an zwei weiteren Zelten vorüber, dann bog Felb scharf nach links ab, sodass er kurz aus ihrem Blickfeld verschwand. Im nächsten Augenblick hörte Thalia schon Arlions Protestgeschrei, unmittelbar gefolgt von einem unterdrückten Schmerzlaut, der wohl von Felb kam.
»He«, beklagte sich dieser, als Thalia ihn eingeholt hatte, »dein Bruder beißt ja!« Felb versuchte, Arlion am Boden zu fixieren, was diesen aber nicht davon abhielt, nach Leibeskräften Widerstand zu leisten.
»Hör jetzt auf damit, Arlion!«, rief Thalia wütend und verwendete gesprochene Worte, um zu zeigen, wie ernst es ihr war. »Mama wird
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