Götterschild
was war das für dich? Ich meine, habt ihr euch da unten in den Feuerhöhlen bei jeder Gelegenheit einen Schmatz auf die Lippen gedrückt? Seid ihr euch um den Hals gefallen und habt euch geküsst, wann immer ihr euch über den Weg gelaufen seid?«
Selira musste lachen. »Nein, das kann man nicht sagen. Ich habe nie einen meiner Glaubensbrüder so nahe an mich herangelassen. Es gab schon ein paar, die es versucht haben, aber das endete meistens mit einem blauen Auge – für die, nicht für mich natürlich.«
»Aha!«, rief Rai triumphierend. »Also war dein Kuss vorhin schon etwas Besonderes.«
»Genau genommen«, meinte Selira bedächtig, »war es mein erster.«
Rai blieb der Mund offen stehen. »Wirklich?«, brachte er nach einer Weile hervor. »Ist das dein Ernst?«
Ihre Stirn furchte sich erneut bedrohlich. »Wieso? Wie viele Mädchen hast du denn schon geküsst?«
Rai räusperte sich verlegen. »Na ja, ähem, schon das eine oder andere …« Er fuhr sich durch die schwarzen Locken und richtete sich ein wenig mehr auf, weil ihm sein Bein in dieser halb liegenden Position zunehmend Schmerzen bereitete. »Aber es war nie die Richtige dabei – bis jetzt.«
Zu Seliras anfänglicher Überraschung gesellte sich nach dieser Bemerkung bald ein Ausdruck sanfter Glückseligkeit, die Rai so noch nie bei ihr erblickt hatte. »Aus demselben Grund bist du auch der Erste, der von mir nach einem Kuss kein Veilchen verpasst bekommt«, sagte sie leise und fügte lächelnd hinzu: »Hab ich es jetzt so ausgedrückt, dass sogar du es verstehst?«
Rais Gesicht färbte sich tiefrot und alles, was er zustande brachte, war ein Nicken, untermalt von einem leicht dümmlichen Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reichte.
»Trotzdem muss ich jetzt zusehen, wie ich dich diesen Abhang hinunterbringe.« Selira stand auf. »Das Geröll ist tückisch«, stellte sie nach einer eingehenden Begutachtung des Hanges fest. »Wenn ich da ausrutsche, dann schlittern wir bis zur Festungsmauer hinunter und brechen uns dort wahrscheinlich alle Knochen.« Plötzlich kniff sie die Augen zusammen.
»Was ist los?«, fragte Rai alarmiert. »Sind Megas’ Männer zurückgekehrt?«
»Das nicht«, erwiderte sie, ohne den Blick abzuwenden, »aber dort bewegt sich irgendetwas Großes zwischen den Steinen.«
»Was ist es denn?«, wollte Rai wissen. Er stemmte sich mit den Armen hoch, um selbst einen Blick auf das unbekannte Etwas werfen zu können, vermochte den oberen Rand des Felsens allerdings nicht einmal annähernd zu erreichen. »Ist es ein Tier oder ein Mensch?«
»Hmm«, machte Selira, »es sieht aus wie ein großer, moosbewachsener Stein auf vier Beinen. Und es ist schon die halbe Strecke zu uns hochgeklettert.«
Jetzt gab es für Rai kein Halten mehr. Mit zusammengebissenen Zähnen robbte er bis an den seitlichen Rand des Felsens und spähte hinab. Das Bild, welches sich ihm dort bot, hatte etwas Unwirkliches, zutiefst Beunruhigendes. Inmitten der steilen, grauschwarzen Schotterödnis, die sich zwischen den Kluftwänden bis zur Festung erstreckte, wanderte eine graugrüne, etwa einen Schritt hohe und knapp zwei Schritt lange, seitlich abgeflachte Halbkugel herum, die in unregelmäßigen Abständen kehlige Grunzlaute von sich gab. Es war von ihrem Beobachtungsposten aus nicht zu erkennen, ob das Wesen so etwas wie einen Kopf oder Schwanz besaß. Aufgrund seiner Tarnung wäre es ihnen vermutlich gar nicht aufgefallen, hätte es sich nicht bewegt. Somit traf Seliras anfängliche Beschreibung das Aussehen der Felsenkreatur recht exakt, denn es schien sich tatsächlich um einen halbierten, zum Leben erwachten und lautstark schnüffelnden Findling zu handeln.
»Meinst du, das da kommt bis zu uns herauf?«, fragte Selira besorgt.
Rai konnte die Augen nicht von dem wandelnden Geröllbrocken nehmen. »Sieht so aus, als würde das Ding unserer Spur folgen.«
»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Selira. Die Anspannung ließ ihre Stimme leicht vibrieren.
»Ich hatte da mal ein ziemlich unangenehmes Aufeinandertreffen mit einer Meute Jagdhunde«, erklärte Rai, »und die hielten ihre Nase genauso am Boden, wenn sie der Fährte einer Beute gefolgt sind.«
Selira starrte das Wesen einem Moment lang an. »Ich kann keinen Kopf entdecken, geschweige denn eine Nase«, meinte sie schließlich achselzuckend.
»Wahrscheinlich hat das Vieh so eine Art Panzer«, vermutete Rai, »und der Kopf verbirgt sich darunter, sodass wir ihn nicht sehen
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