Götterschild
seinen Truppen bereits in aller Frühe aufgebrochen. Von Belena fehlte jede Spur.
»Was ist denn los?«, vernahm sie eine matte Stimme hinter sich. »Sind die Schwarzlanzer weg?«
Sie wandte sich um. Rai hatte sich halb aufgesetzt und sah sie fragend an. »Ja, sie sind abgezogen«, erwiderte Selira verärgert, »und Targ mit ihnen. Doch jetzt scheint auch noch Belena weggelaufen zu sein. Schöne Freunde sind das!«
Rai ließ betroffen den Kopf sinken. »Wahrscheinlich hat sie gehofft, im Lager etwas über ihre Tochter herauszufinden. Sie wird versucht haben, die gefangenen Istanoit zu befragen, nehme ich mal an. Vielleicht ist sie dabei erwischt worden.«
»Na wunderbar«, bemerkte Selira spitz. »Jeder kümmert sich nur darum, was ihm gerade am wichtigsten ist, und wir sitzen jetzt allein hier in der Wildnis herum. Kannst du mir mal verraten, wie ich dich jetzt nach Seewaith bringen soll? Das hat sich diese selbstsüchtige Jammergestalt wohl nicht überlegt, als sie wieder einmal auf eigene Faust losgezogen ist, um nach ihrer Tochter zu suchen.«
Rai machte ein Gesicht, als wäre er persönlich verantwortlich für diese Misere. »Versetz dich doch mal für einen Augenblick in ihre Lage. Im Moment deutet alles darauf hin, dass ihre Tochter nicht mehr am Leben ist. Da Thalia nicht bei den Gefangenen war, muss Belena befürchten, dass sie bei dem Überfall der Schwarzlanzer auf den Nomadenstamm getötet wurde. Das bringt sie wahrscheinlich halb um den Verstand.«
»Hör auf, sie ständig zu verteidigen!«, fuhr ihn Selira an. »Sie hat uns schon einmal verraten und wir haben ihr verziehen. Jetzt ist der Bogen endgültig überspannt. Wir können froh sein, dass sie uns nicht die Schwarzlanzer auf den Hals gehetzt hat.«
»Sei nicht so streng mit ihr«, bat Rai niedergeschlagen. »Sie wollte uns sicherlich nicht schaden. Vielleicht kannst du ja allein nach Seewaith gehen und Hilfe holen.«
Selira sah ihn ungläubig an. »Du willst, dass ich dich hier einfach liegen lasse?«
»Was haben wir denn schon für Möglichkeiten?«, erwiderte Rai. »Ich kann nicht laufen und du kannst mich nicht alleine tragen. Du musst mich zurücklassen.«
Unvermittelt lächelte sie. »Du willst also schon wieder den Helden spielen?«
Rai warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ich habe ein ausgerenktes Bein, liege wimmernd auf einer Bahre und kann mir selbst nicht helfen. Wenn du das als heldenhaft ansiehst, hast du eine merkwürdige Vorstellung davon.«
Eine gänzlich ungewohnte Milde lag plötzlich in Seliras nachtschwarzen Augen. Unversehens beugte sie sich vor und gab Rai einen Kuss. Zwar währte die Berührung ihrer Lippen nur kurz, aber sie wählte dafür nicht etwa Rais Wange oder die Stirn, sondern seinen Mund. Wie verhext starrte sie der Tileter in sprachlosem Staunen an.
»Jetzt guck nicht, als hätte ich dir ein Brandeisen aufgedrückt«, sagte sie spöttisch. »Irgendwie muss ich so viel Edelmut ja belohnen. Denn ich befürchte, Belena weiß nicht wirklich zu würdigen, was du alles für sie tust.«
Rai fehlten noch immer die Worte. »Was … hat das jetzt zu bedeuten?«, brachte er stockend hervor.
»Was glaubst du denn?«, fragte Selira belustigt.
»Keine Ahnung«, meinte Rai und sah sie mit großen Augen an. »Sag es mir doch einfach.«
»Das bedeutet, dass ich dich hier auf keinen Fall alleine lassen werde«, antwortete Selira ernst.
»Das war aber nicht, was ich wissen wollte.« Rai ließ sich nicht entmutigen. »War das gerade so ein …«, er musste sich sichtlich überwinden weiterzusprechen, »… du weißt schon, so ein Kuss, den man Kranken gibt, damit sie bald wieder gesund werden, oder war das …«
Er zögerte, fasste sich schließlich aber ein Herz und fuhr fort: »… so ein Kuss, den man jemandem gibt, weil man ihn sehr mag?«
»Du weißt doch, dass ich dich gernhab«, gab Selira stirnrunzelnd zurück, als verstehe sie nicht, auf was Rai hinauswollte. »Auch wenn du mich manchmal zur Weißglut bringst.«
»Ja, schon«, quälte sich Rai weiter, »aber … nun du hast mal gesagt, wir sind Freunde …«
»Ja, sind wir das denn nicht?«
»Oh, bei den Göttern«, seufzte Rai, »warum machst du es mir so schwer? Ich weiß bei dir nie, woran ich bin.«
»Du bist doch derjenige, der irgendwelche unverständlichen Sätze vor sich hin stammelt.« Selira zuckte mit den Achseln. »Ich habe dir lediglich einen kleinen Kuss gegeben.«
»Ja, eben!« Rai klang mittlerweile schon beinahe ungehalten. »Und
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