Götterschild
worauf wartest du noch?
Im gleichen Moment ging die Tür des Wachturms auf und Selira stand auf einmal kaum fünf Schritte vor ihm. So wie es aussah, war sie auf dem Weg zum Wasserholen, da sie einen leeren Wassereimer in der Hand hielt. Rai erstarrte so abrupt, als hätte er ein Gespenst gesehen. Als Selira den vor dem Turm postierten Tileter erkannte, zog sie verdutzt ihre dunklen Augenbrauen in die Höhe.
»Rai! Was machst du hier?«, fragte sie irritiert.
»Ich … warte«, antwortete er, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Auf wen oder was?«, erkundigte sich Selira.
»Das … das kann ich dir nicht sagen.« Was war denn das für eine schwachsinnige Antwort?, schalt sich Rai gedanklich. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Na gut, dann eben nicht.« Sie machte sich auf den Weg zu einem nahen Bach, um ihren Eimer zu füllen.
»Kann ich dich begleiten?«, rief ihr Rai hastig hinterher.
»Meinetwegen«, erwiderte sie betont gleichgültig. »Hoffentlich verpasst du dann nicht, worauf du hier so gewissenhaft gewartet hast.«
Rai stellte fest, dass ihr Treffen schon wieder den gleichen bedenklichen Verlauf nahm wie immer, wenn sie sich begegneten – nämlich hin zu einem Streit. Er musste dringend gegensteuern.
»Ich kann dir ja deinen Wassereimer tragen, wenn er für dich zu schwer ist«, schlug er unter Aufbietung all seiner Liebenswürdigkeit vor.
»Nein, danke«, schmetterte sie seinen Vorschlag ab. »Das schaffe ich schon noch allein.«
Er lief eine Weile stumm hinter ihr her, bis ihm endlich wieder etwas einfiel, das er sagen konnte: »Und, gefällt es dir, wieder an der Oberfläche zu sein?«
»Fang jetzt bitte nicht wieder damit an«, stöhnte Selira. »Jedes Mal, wenn wir uns sehen, willst du mich davon überzeugen, die Feuerhöhlen des Xelos zu verlassen, um in der Stadt zu leben. Ich habe dir aber schon tausendmal erklärt, dass ich das nicht gegen den Willen meiner Glaubensgeschwister tun werde. Also lass dieses Thema endlich auf sich beruhen.« Wütend beschleunigte sie ihre Schritte, sodass Rai ein wenig zurückblieb.
»Ich werde die Insel verlassen«, sagte er so leise, dass es für Selira kaum hörbar war.
»Was?« Sie blieb stehen und drehte sich um.
»Ich werde Andobras für längere Zeit verlassen«, wiederholte er etwas lauter.
»Ach, wie schade«, sagte Selira. Es klang aufrichtig bedauernd. »Ich dachte immer, es gefällt dir hier.«
»Ja, schon, aber ich muss ein Versprechen einlösen«, erklärte Rai, den Seliras Reaktion neuen Mut schöpfen ließ. »Ich habe Belena, einer jungen Frau, mein Wort gegeben, dass ich sie zurück zu ihrer Tochter nach Seewaith bringe.«
»Das ist ja richtig selbstlos von dir«, bemerkte Selira anerkennend, fügte aber im gleichen Atemzug hinzu: »Hätte gar nicht gedacht, dass du den Wünschen anderer so viel Beachtung schenkst.«
Rai runzelte kurz die Stirn, weil er nicht recht wusste, ob er diese Bemerkung nun in erster Linie als Kompliment oder als Kritik verstehen sollte, entschied sich dann aber, einfach nicht darauf einzugehen. Er befand sich gerade auf einem guten Weg, schließlich hatte er jetzt endlich Seliras Interesse geweckt. Das durfte er nicht aufs Spiel setzen.
»Tja, und aus diesem Grund wollte ich dich fragen«, Rai nahm seinen ganzen Mut zusammen, »ob ich dich einmal unter vier Augen sprechen könnte.«
Selira blickte um sich. »Es ist niemand hier, wir sind ungestört. Was willst du mir sagen?«
»Ähm … ich meinte eigentlich nicht hier … sondern … auf dem Berg«, stotterte Rai, den diese unvermittelte Aufforderung vollständig aus dem Konzept brachte.
»Auf dem Berg?«, fragte die junge Xelitin perplex. »Was wollen wir denn auf einem Berg?«
»Ich … ich möchte mich nicht so nebenbei beim Wasserholen mit dir unterhalten«, versuchte Rai die Situation noch zu retten.
Doch wieder schien Selira alles misszuverstehen. »Ich soll extra auf einen Berg klettern, um mit dir zu reden? Muss ich vielleicht auch noch auf einem Bein stehen und bellen, damit du mir deine geheimen Weisheiten offenbarst?« Sie schnaubte entrüstet und setzte ihren Weg zum Bach fort.
Es hatte alles keinen Zweck: Rai hatte das Gefühl, als spräche er eine andere Sprache als Selira. Egal was er sagte, Selira bekam es in den falschen Hals. Wahrscheinlich hielt sie ihn inzwischen für einfältig, wenn nicht sogar anmaßend.
Niedergeschlagen lief Rai weiter hinter Selira her, doch es
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