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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Ausdruck auf Gordons Gesicht, und was er darin las, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Kapitän der Ninja wirkte … erschüttert. Andrej hatte sich bis zu diesem Moment gefragt, ob Gordon dieses Gefühl überhaupt kannte.
»Verschwindet«, sagte Gordon schließlich.
Die Worte galten den Matrosen, von denen ihnen etliche (wenn nicht alle) gefolgt waren und sich jetzt neugierig hinter ihnen drängten. Die Männer gehorchten, wenn auch murrend, doch Abu Dun blieb auch dann noch eine geraume Weile als lebender Sichtschutz stehen, bevor er sich endlich aufrichtete und zur Seite trat. Sein Gesicht war wieder zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, aber der Blick, mit dem er Andrej streifte, war kalt wie gefrorener Stahl.
Andrej beugte sich über den Toten und auf einmal verstand er Abu Dun.
Hinter ihm sog Rodriguez hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, und Bresto gab einen sonderbaren, fast schon komisch klingenden Schreckenslaut von sich. Es war Jacques, aber selbst Andrej fiel es schwer, ihn wiederzuerkennen. Sein Gesicht war verzerrt, als hätte er im Moment seines Todes etwas unvorstellbar Schreckliches gesehen, und er war nicht so bleich wie der sprichwörtliche Tote, sondern sehr viel blasser. Gordon hatte behauptet, jemand hätte ihm die Kehle durchgeschnitten, doch der Mann sah eher aus, als hätte sich ein tollwütiges Raubtier mit seinen Krallen über ihn hergemacht. Sein Hals war zerfetzt. Das Wasser, in dem er gelegen hatte, hatte alles Blut von seiner Haut gewaschen, sodass sie nun in den ausgewaschenen tiefen Wunden den weißen Knochen seines Rückgrats schimmern sahen. Nur eine Winzigkeit mehr, dachte er schaudernd, und der unbekannte Angreifer hätte ihn enthauptet.
Aber es war nicht nur der Anblick der schrecklichen Verletzung, der ihn schaudern ließ. Da war … noch etwas. Ein unheimliches Gefühl von Vertrautheit, das er sich nicht erklären konnte. Als versuche ihm dieser Tote etwas zu sagen oder ihn an etwas zu erinnern. Bilder erschienen vor seinen Augen, verworrene Impressionen von Blut und Tod, Schreien und reißenden Klauen und Fängen.
Er verdrängte das unheimliche Bild, schloss für einen Moment die Augen und begegnete Abu Duns Blick, als er die Lider hob. Die Kälte in seinen Augen hatte noch einmal zugenommen.
»Was?«, fragte Andrej scharf.
Abu Dun streckte ohne ein Wort die Hand aus, zog, immer noch schweigend, den Dolch aus Gordons Gürtel und kniete dann neben dem Toten nieder. Ehe Andrej begriff, was er tat, setzte er den Dolch an und schlitzte den Leichnam vom Hals bis zum Bauchnabel auf. Bresto schnappte nach Luft, und Gordon keuchte: »Was zum Teufel treibst du da, du verdammter Heide?« Ein Wort, das ihn unter anderen Umständen gut das Leben hätte kosten können.
Jetzt jedoch reagierte Abu Dun nicht darauf, sondern stemmte sich mit einem übertriebenen Ächzen wieder hoch und trat zur Seite, um den Blick auf den Toten vollends freizugeben. Gordons Augen weiteten sich, und Bresto drehte sich mit einem Ruck um und begann zu würgen.
Abu Dun hatte den Mann regelrecht tranchiert, aber für diese, wie sie eben noch gemeint hatten, unnötige Grausamkeit hatte keiner von ihnen in diesem Moment einen Blick.
»Kein … Blut«, murmelte Gordon. »Da ist … nicht ein Tropfen Blut!«
»Aber wie kann das sein?«, flüsterte Bresto. Seine Stimme klang belegt.
»Vielleicht das Wasser«, murmelte Rodriguez. »Wie lange hat er im Wasser gelegen?« Niemand antwortete. Es war auch nicht nötig. Man musste nichts von der Seefahrt verstehen, um zu wissen, dass das Salzwasser nicht alles Blut aus einem Körper wäscht; nicht in wenigen Stunden. Rodriguez wusste das ebenfalls. Ein sehr unangenehm lastendes Schweigen begann sich breitzumachen, und wieder musste Andrej gegen die Gespenster ankämpfen, die aus seiner Erinnerung aufsteigen wollten.
»Deckt ihn wieder zu«, sagte Gordon schließlich. »Und dann beschweren wir ihn anständig mit Steinen und werfen ihn über Bord.«
»Und das würdige Seemannsbegräbnis?«, fragte Andrej.
»Ich will nicht, dass die Männer das sehen«, sagte Gordon. »Seeleute sind ein abergläubisches Volk.« Andrej sparte sich die Bemerkung, dass die meisten seiner Männer den Toten ohnehin schon gesehen hatten, wenn auch nicht in diesem Zustand. Aber Gordon hatte recht, Seeleute (und nicht nur diese) waren abergläubisch.
»Das müsst ihr allein erledigen«, sagte Abu Dun, drehte sich wieder zu Andrej herum und fuhr mit unbewegtem Gesicht und in unverändertem

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