Göttertrank
Nach Einbruch der Dunkelheit darf ich nicht mehr auf die Straße. Bestimmte Gegenden darf ich gar nicht mehr betreten; wenn mich da ein Polizist erwischt, werde ich sofort verhaftet. Und das Furchtbarste ist – jede Woche muss ich in die Klinik, um mich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen – als Anschauungsobjekt für die Medizinstudenten. Amara, ich kann da nicht bleiben. Ich kann nicht!«
Sie schluchzte und zerrte an einem Taschentuch in ihrem Ärmel.
»Nein, natürlich kannst du nicht bleiben. Wir finden schon eine Lösung.« Ich nahm sie in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind. Eine solche Behandlung hatte sie wirklich nicht verdient. Aber dann wuchs die Wut auf diesen verfluchten Kantholz.
»Sag mal, Melli, wann wollten Jan und Alexander zurückkommen?«
»Noch diesen Monat«, schniefte sie. »Ich hab die Vermieterin unter Androhung von Hölle und Verdammnis dazu verdonnert, die Pflanzen zu gießen.«
»Das ist das geringste Problem, nötigenfalls fahre ich hin und schaue nach dem Rechten. Nein, mir kam nur der Gedanke, dass Alexander auch noch ein Hühnchen mit Karl August zu rupfen hat. Er war in der Sache schon mal sehr erfinderisch. Und deine heldenhafte Tat wird ihn auch beglücken.«
Immerhin gelang es mir mit dieser Bemerkung, ihr ein winziges Lachen zu entlocken.
Am Abend erfolgte eine biestige Auseinandersetzung zwischen mir und den Damen Bevering, die meinen Anton blass und sprachlos werden ließ. Aber es beschleunigte die Angelegenheit. Drei Tage später hatten wir für Melisande eine neue Stelle gefunden und ein eigenes Zimmerchen in der Blindgasse, von wo sie es nicht weit zu ihrem Arbeitsplatz hatte. Gleich gegenüber hatte nämlich vor kurzem Franz Stollwerck eine Mürbebäckerei aufgemacht, die so großen Zuspruch fand, dass er eine weitere Verkäuferin für seine Mürbeteigkuchen, Zwiebäcke, Kekse und Spirituosen benötigte.
Überraschender Besuch
Stets findet Überraschung statt
Da, wo man’s nicht erwartet hat.
Wilhelm Busch
Zur selben Zeit, als Melisande an die Tür des Apothekerhauses klopfte, stand ein anderer unerwarteter Gast vor der Tür von Alexanders kleinem Häuschen und sah sich mit gerümpfter Nase um. Hannes, der Mist in einem Beet untergrub, bemerkte die feine Dame, die der hoch beladenen Reisekutsche entstiegen war, als Erster. Er freute sich, dass sie anscheinend zu Herrn Alexander wollte, den Mann, den er fast mehr verehrte als seinen leiblichen Vater, und er ging auf sie zu, eine abgerupfte Rose in der Hand, um sie auf seine tölpelige Art zu begrüßen.
»Hu Ach!«, sagte er freundlich, von einem Ohr zum anderen grinsend, und streckte ihr die Faust mit der Blume entgegen.
Mit weit aufgerissenen Augen und erstarrenden Zügen machte die schöne Dame vorsichtig einen Schritt nach dem anderen rückwärts.
»Ohr-icht!«, warnte Hannes sie und wollte ihre Hand ergreifen. Das aber führte zu einem weiteren hektischen Schritt nach hinten, sie stolperte über den Stiel der Mistgabel und landete in dem stinkenden Haufen.
Dann erst begann sie zu schreien.
Und Hannes, den die Angst packte, suchte das Weite.
Gisa Nettekoven hörte das Schreien und lief aus dem Haus. Erst erblickte sie die Kutsche, dann den Kutscher, der einer vornehm gekleideten Dame aus einer höchst misslichen Lage aufzuhelfen versuchte.
»Gnädige Frau, was ist passiert?«, rief Gisa entsetzt, als sie bei ihr angekommen war. »Hat man Ihnen etwas angetan?«
Da die Dame noch immer unfähig schien zu sprechen, erläuterte der Kutscher, was er gesehen hatte.
»Ein junger Trottel hat sich ihr genähert. Ich glaube, nicht in böser Absicht. Aber Frau Gräfin ist ein wenig erschrocken zurückgewichen und gestolpert.«
»Frau Gräfin? Oh, mein Gott. Euer Gnaden!«
»Paula von Massow«, sagte die Dame kalt und versuchte, standesgemäße Würde auszustrahlen.
»Sie sind gekommen, um Alex... pardon, um den Herrn Grafen zu sehen?«
»Warum wohl sonst sollte eine Ehefrau das Heim ihres Gatten aufsuchen, frage ich Sie?«
»Aber Herr Masters, will sagen, Seine Gnaden sind noch in England. Aber ich bitte Sie, Euer Gnaden, kommen Sie erst einmal zu uns, damit wir das Malheur beseitigen können. Dann regeln wir alles. Ich bin sicher, mein Mann, der Josef Nettekoven, der wird eine Lösung wissen.«
Gnädig nahm Paula die Einladung an und ließ sich von der unterwürfig bemühten Gisa bedienen. Mochte Josefs Weib Alexander weiter ungezwungen als Freund ihres Mannes, ja fast
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