Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
Vom Netzwerk:
erstaunlichen Versuch in der englischen Marine angestellt. Er teilte die an Skorbut erkrankten Matrosen in sechs Gruppen auf und behandelte sie mit unterschiedlichen Therapien. Genau weiß ich nicht mehr, was es war, irgendwie mit Apfelwein, einer Arznei, Knoblauch und so weiter. Diejenigen, die täglich zwei Orangen aßen, waren nach sechs Tagen geheilt.«
    »Vor achtzig Jahren, sagten Sie? Ich dachte, das sei eine ganz neue Maßnahme?«
    »Womit Sie blauäugiger Idealist mal wieder etwas dazugelernt haben. Zwischen Erkenntnis und Umsetzung kann eine Menge Zeit verstreichen. Man hat den guten James Lind bis an sein Lebensende für meschugge gehalten.«
    »Großer Gott!«
    »Und so wird es mir auch gehen. Ich habe Buch darüber geführt, unter welchen Bedingungen Verletzungen besser heilen. Von einem alten Seebären habe ich vor Jahren gehört, dass die Leute, wenn kein Arzt zur Hand war, ihre Wunden mit Salzwasser behandelt haben. Ist mir durch den Kopf gegangen, das mal wissenschaftlich auszuprobieren. Und auf einem Kahn wie diesem werden Sie sehen, gibt es täglich irgendwelche Verletzungen. Ein Jahr lang habe ich jede zweite Verletzung mit Meerwasser ausgewaschen, die anderen wie üblich behandelt. Raten Sie mal, was dabei herauskam?«
    »Da Sie die Therapie beibehalten haben, muss sie wirksam sein.«
    »Kaum Wundbrand, wenig Fieber, schnellere Heilung.«
    Jan Martin, weit davon entfernt, die Erkenntnis anzuzweifeln, schob sofort die nächste Frage hinterher: »Ist es das Wasser oder das Salzwasser im Besonderen? Welcher Stoff im Meerwasser könnte diese Wirkung hervorrufen?«
    »Eifrig, eifrig. Ich machte Versuche mit Süßwasser, Salzwasser und Alkohol. Beste Ergebnisse brachte das Auswaschen mit hochprozentigem Branntwein, Salzwasser sehr gute und selbst Süßwasser noch immer bessere Ergebnisse als gar kein Auswaschen. Aus einem guten Grund bleibe ich bei Salzwasser, den Alkohol verabreiche ich lieber innerlich. Die Matrosen würden mich an der Spiere aufhängen, wenn ich ihre Ration äußerlich anwenden wollte.«
    Jan Martin hatte an diesem Abend viel nachzudenken und zog sich in seine enge Kajüte zurück. Die medizinische Wissenschaft stand vor einem Wandel. Das war ihm schon während des Studiums aufgefallen. Die Traditionalisten hingen der Naturphilosophie an und beharrten darauf, alle grundlegenden Fragen durch reines Nachdenken zu lösen. Als Grundlage dazu dienten ihnen die Schriften der früheren Ärzte und die Vier-Säfte-Lehre. Fortschrittlichere Gelehrte hingegen verließen sich zusehends auf Faktenwissen, das sie in kontrollierten Versuchsreihen oder Beobachtungen erhoben. Zwischen beiden Schulen kam es gelegentlich zu erbitterten Auseinandersetzungen. Jan Martin neigte den Empirikern zu, auch er hatte einen ordnenden Geist, der aus systematisch ermittelten Daten Erkenntnisse ableitete. Dennoch stellte er auch immer wieder Fragen nach den Zusammenhängen, und die überwältigten ihn häufig. Mit dem dumpfen Gefühl, überhaupt nichts zu wissen, ging er an diesem Abend ins Bett.

Eis und Feuer
    Nur wer so standhaft seine Freunde liebt,
ist wert daß ihm der Himmel Freunde gibt.
Ein Freundesherz ist ein so seltner Schatz,
die ganze Welt ist dafür nicht Ersatz.
    Friedrich von Bodenstedt
     
     
    Melisande worfelte vor der Tür die gerösteten Kakaobohnen und schmetterte dazu mit volltönender Stimme in den strahlenden Junimorgen:
    »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
    Die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran;
    dass für die Freiheit unsre Väter starben,
    das deuten, merkt es, meine Farben an.
    Wie werd ich bang verzagen,
    wie jene will ich’s wagen.«
    Ich sah aus dem Küchenfenster und musste grinsen. Auf den Hackklotz, auf dem Sascha normalerweise das Anmachholz für den Backofen zerkleinerte, saß der schwarze Kater Murzik, die weißbepelzte Brust stolz gewölbt, und gab sich den Anschein eines aufrechten Preußen. Er schien Melli zu ihrem Lied inspiriert zu haben.
    Melisande war zwei Jahre jünger als ich, einen Kopf kleiner und ausgesprochen zierlich. Außerdem verfügte sie über einen unerschöpflichen Fundus der eigenartigsten Lieder. Studentenlieder, die sie aus einem liegen gebliebenen Kommersbuch ihrer Gäste entnahm, Opernarien, die sie von ihrer Mutter, Nadina Galinowa, gelernt hatte, die zu Zeiten als Soubrette am Königsstätter Theater gesungen hatte, schwermütige russische Volkslieder, die ihr Sascha, das einbeinige Hausfaktotum, beibrachte, und natürlich alle

Weitere Kostenlose Bücher