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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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gängigen Gassenhauer. Sie hatte eine reine, von ihrer Mutter ausgebildete Stimme irgendwo zwischen Mezzosopran und Alt und ein ungeheures Lungenvolumen. So schallte denn auch der Kampfruf der Preußen lautstark über den Havelsee. Anstoß würde vermutlich keiner daran nehmen. Anders wäre es wohl, wenn sie die trotzigen Freiheitsaufrufe der verbotenen Burschenschaften anstimmte. Aber das tat sie nur in geschlossenen Räumen. Wie die jungen Herren auch.
    Es herrschte eine friedliche Stimmung in diesen Jahren. Was wir aus den Unterhaltungen unserer Gäste aufschnappten, bewies uns, wie sehr die Menschen sich nach Ruhe, Gleichförmigkeit und Gemütlichkeit sehnten, nun, siebzehn Jahre nach dem Ende der Revolutions- und Kriegszeiten. Die Aufregungen von Niederlagen und Besatzung, von Einquartierungen und sogar von ruhmvollen Siegen wünschte man zu vergessen. Kaum eine Familie, die nicht einen Verlust an Leib und Leben oder Hab und Gut zu beklagen hatte. Bei unseren Besuchen in der Stadt konnten wir noch immer nicht die Straße überqueren, ohne dass ein Verkrüppelter seine Hand, so er denn noch eine hatte, nach einer milden Gabe ausstreckte. In den Gazetten lasen wir von glänzenden Wohltätigkeitsveranstaltungen, auf denen eifrig Geld für die Veteranen gesammelt wurde. Aber im privaten Umfeld mochte man davon nicht mehr berührt werden. Eine biedere Bürgerlichkeit begann sich auszubreiten. Revolutionäre Ideen, aufrührerisches Gedankengut, der Ruf nach Freiheit von was auch immer waren verstummt und fanden nur im Verborgenen einen sättigenden Nährboden.
    Sogar die Damenmode zeigte sich den Karlsbader Beschlüssen, die die Restauration einleiteten, geneigt. Hatte ich als Kind noch die körperbetonten, eleganten, unter dem Busen gegürteten Hemdkleider aus dünnen, pastellfarbenen Musselinen an der Gräfin von Massow bewundert, so durfte ich an Madame Galinowa heute die aus schwereren Stoffen gefertigten, ausladenden Röcke bestaunen. Nadina hatte eine Vorliebe für die neue, opulente Mode und ihre leuchtenden Farben. Dafür nahm sie es in Kauf, sich von Melli oder mir jeden Morgen das starre Fischbeinkorsett schnüren zu lassen. Ihr standen jedoch diese raschelnden, volantreichen Kleider, die von rüschenbesetzten Unterröcken ihr Volumen erhielten, da sie großgewachsen und von kräftiger Gestalt war. Sie wirkte geradezu majestätisch. Einzig auf die üppigen Ärmel verzichtete sie, denn diese benötigten komplizierte Unterbauten aus Rosshaar und Fischbein, um ihre Fülle zu wahren. Auch die Mode der kurzen Haare während der Revolutionsjahre war für die Damen heuer völlig unannehmbar geworden. Man ließ die Locken wieder wachsen, steckte sie zu komplizierten Gebilden auf und half, so die Natur nicht genügend Material lieferte, mit künstlichen Zöpfen nach.
    Melisande und ich schlossen uns, anders als Madame Galinowa, der unpraktischen Mode nicht an, ja, wir belächelten ihre wildesten Auswüchse sogar heimlich. Beide trugen wir unsere langen Haare in der Mitte gescheitelt und den Zopf zu einem festen Chignon im Nacken aufgesteckt. Mit den »Schinkenärmeln« war ein Arbeiten in der Küche und im Ausschank nicht möglich, und ein die Taille einschnürendes Korsett hätte die notwendige Bewegungsfreiheit beträchtlich eingeengt. Wir kleideten uns weiterhin in Röcke und Blusen, deren Ärmel wir oft genug aufrollten, und über alles banden wir blitzweiße, gestärkte Schürzen.
     
    Gut zwei Jahre lebte ich inzwischen bei Nadina Galinowa, ihrer Tochter Melisande und dem restlichen höchst skurrilen Hausstand. Da war die uralte, halbtaube Frau, die tagaus, tagein über das Herdfeuer wachte, Brot buk, Griebenschmalz ausließ, die Küche sauberhielt und nur selten ein paar russische Worte murmelte. Sie tat immer klaglos, was man ihr auftrug, und ihr stoischer Gesichtsausdruck veränderte sich nur, wenn Melisande sie umarmte und ihr ein wehmütiges Lied ins Ohr sang. Ich hatte bisher nicht herausfinden können, wie Babuschka in die Menagerie geraten war. Vermutlich hatte sie Madame Galinowa genauso aufgelesen wie Sascha, den Veteranen der vergangenen Kriege, Lena, eine geistig zurückgebliebene Frau in den Vierzigern, die sich um die Wäsche kümmerte, Murzik, den Streunerkater, und Rex, den alten Schäferhund. Und mich selbst.
    Welch ein Glück ich damit hatte, wurde mir immer wieder bewusst, wenn ich die fröhliche Melisande ansah. Ihr verdankte ich es, dass ich das Lachen wieder gelernt hatte. Völlig

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