Göttertrank
Speer mit den Widerhaken aus der Hand flog und einem anderen in den Oberschenkel fuhr.
Die gebrüllten Flüche des Getroffenen ließen an Bildhaftigkeit nichts zu wünschen übrig.
Jan Martin aber nahm all seinen Mut zusammen und trat zu dem Matrosen.
»Halten Sie still, Mann. Einer von euch ruft Doktor Klüver her. Ich halte den Harpunenschaft. Löst das Seil, aber vorsichtig. Es darf nicht bewegt werden.«
Die Männer gehorchten ihm widerspruchslos, was ihn selbst überraschte. Doktor Klüver kam herbeigeeilt, besah sich den Schaden und gab weitere kurze Befehle. Ein Hocker wurde gebracht, die Instrumententasche des Arztes und Verbandsmaterial.
»Praxis, Herr Kollege«, meinte er dann grinsend zu Jan Martin und rief einem der Matrosen zu: »Du da, hol mir zwei Eimer Meerwasser rauf!« Dann wandte er sich an den Verletzten, den sie auf den Hocker gesetzt hatten. »Und du, wie heißt du?«
»Klaas, Herr Doktor.«
Klüver öffnete seine Instrumententasche. »Sie, mein Junge, stellen den Bottich unter sein Bein«, wies er Jan Martin an. Etwas verblüfft schob der das flache Holzschaff unter das blutende Bein. Der andere Matrose kam mit schwappenden Eimern herein und stellte sie ab.
»Augen zu und Zähne zusammenbeißen!«
Mit einem Skalpell schnitt der Schiffsarzt an der Eintrittswunde der Harpune entlang erst durch den Stoff der Hose, dann in das Fleisch, und Jan Martin zog beherzt den Speer heraus.
Klaas brüllte buchstäblich wie am Spieß. Doktor Klüver befahl ungerührt: »Nu treck man de Büx ut!«, und mit Schwung goss er dann den ersten Eimer Salzwasser über die Wunde. »Hände waschen, Herr Kollege, und das Kattgut zurechtmachen. Wir brauchen ein paar Stiche, dann ist alles wieder gut, Klaas. Nur ins Krähennest wirst du die nächsten Tage nicht klettern können.«
»Ist auch besser so, da oben wird’s mir immer schlecht«, brachte Klaas zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Nun flicken Sie, Doktor Jantzen. Ich bereite den Verband vor.«
Jan Martin hatte sich geschickte Hände erworben und versuchte, dem Verletzten so wenig Schmerzen wie möglich zu bereiten, doch als er mit der gebogenen Nadel durch das zerrissene Fleisch stach, jaulte der Matrose auf.
»Brauchst dich gar nicht so anzustellen, Klaas. Ist nicht tief genug für eine Extraportion Rum«, beschied ihn Klüver mit einem Grinsen.
Vier Stiche sollten genügen, dachte Jan Martin und zog sich zurück. Noch ein Schwapp Wasser wurde über das Bein gegossen, dann legte der Schiffsarzt ihm den Verband an und meinte: »Zwei Freiwachen. Ich sag dem Maat Bescheid.«
Ein bisschen schwach auf den Beinen und gestützt von seinem Kameraden, hinkte Klaas davon.
»Na, was gelernt, Herr Kollege?«
»Mehr Fragen.«
»Schießen Sie los.«
»Salzwasser brennt teuflisch in offenen Wunden, warum haben Sie das gemacht?«
»Damit er sein Bein behält.«
»Es war doch nur eine Fleischwunde?«
»Haben Sie schon mal einen Wundbrand gesehen?«
»Natürlich. Aber...«
»Ein Schiff, junger Kollege, ist eine Welt für sich. Ich fahre nun seit fünfzehn Jahren zur See, und diese ist meine letzte Reise, das nur am Rande. Die Männer hier leben auf engstem Raum zusammen, und da erkennt man sehr schnell, was Sauberkeit bedeutet. Nicht nur das Deck muss geschrubbt werden, ein Schiffsarzt hat auch darauf zu achten, dass die Kajüten, die Abtritte und die Kombüse sauber sind. Und die Leute ihre Kleider in Ordnung halten.«
»Um Ungeziefer und ansteckende Krankheiten zu vermeiden.«
»Richtig. Darüber hinaus haben wir es mit einem definierten Versuchsumfeld zu tun, wie Sie schnell einsehen. Fünf, sechs Wochen dauert die Überfahrt, da kann man schon ganz ordentliche Beobachtungen anstellen. Ich bin ein Ordnungsfanatiker.«
Angesichts des immer zerknitterten, oftmals nachlässig zusammengesuchten Anzugs des begeisterten Redners verkniff sich Jan Martin ein Lächeln.
»Sie führen Statistiken über Krankheiten, vermute ich.«
»Ganz richtig. Wie Sie wissen, bergen solche systematischen Auswertungen hochinteressante Erkenntnisse. Haben Sie schon mal von James Lind gehört?«
»Nein, Doktor Klüver.«
»Aber Skorbut ist Ihnen ein Begriff.«
»Natürlich.«
»Und Sie wissen auch, warum wir Sauerkraut gebunkert haben und uns auf den Kanaren mit Zitrusfrüchten eindecken werden?«
»Weil ihr Genuss den Ausbruch der Krankheit vermeidet. Das habe ich allerdings von unseren Kapitänen schon gehört.«
»Schon vor achtzig Jahren hat Lind einen
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