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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Adrian schaute kurz hinüber zum Haus, als erwarte er, dort jemanden am Fenster zu finden, der ihnen zuhörte. Dann wandte er sich wieder Cendrine zu. »Natürlich ist Vater in erster Linie ein Geschäftsmann, und er macht keinen Hehl daraus. Aber er weiß auch, was er den Menschen dieses Landes schuldig ist. Glauben Sie mir, er weiß es sogar sehr genau.«
    »Dennoch – immerhin kam er als Soldat hierher.«
    »Er war bei der Gesellschaftstruppe – so nannte man damals noch die Schutztruppe. Sie hatte nur einige Dutzend Mitglieder. Sein Vater, also mein Großvater, war einer der ranghöchsten Offiziere, und sein Sohn versuchte ihm nachzueifern.« Adrian lächelte bitter. »So lange, bis er seinen ersten Kampfeinsatz erlebte, die Verteidigung einer Hochlandfarm gegen aufständische Damara. Mein Vater und die anderen wurden überwältigt. Einer der Eingeborenen trat vor einen Freund meines Vaters, schnitt ihm die Ohren ab und sagte: ›Du sollst keinen Damara-Ochsen mehr brüllen hören.‹ Dann schnitt er ihm die Nase ab. ›Du sollst keinen Damara-Ochsen mehr riechen.‹ Anschließend stach er seinem Opfer die Augen aus: ›Du sollst keine Damara-Ochsen mehr sehen.‹ Schließlich kamen seine Lippen an die Reihe. ›Vor allem sollst du keinen Damara-Ochsen mehr essen.‹ Dann erst schnitt er ihm die Kehle durch. So machte er es der Reihe nach mit allen Gefangenen. In dem Moment, als er vor meinem Vater stehenblieb, traf die Unterstützung ein und fiel den Aufständischen in den Rücken. Nur Sekunden später, und meinem Vater wäre es ebenso ergangen wie den anderen.« Wieder geisterte ein blasses Lächeln über Adrians Züge. »Sie sollten hören, wie mein Vater diese Geschichte erzählt. Er schmückt sie um einiges eindrucksvoller aus als ich. Valerian hat sie sich ungefähr hundertmal erzählen lassen.«
    »Es ist ein Wunder, daß Ihr Vater seither nicht alle Eingeborenen haßt.«
    Adrian deutete mit einer Handbewegung über die Wiese und die Auasberge im Hintergrund. »Mein Vater sagt, dieses Land gehört den Schwarzen. Sie haben nichts anderes getan, als ihre Heimat zu verteidigen. Wie kann man ihnen deshalb einen Vorwurf machen?«
    »Ist das Ihre Meinung oder die Ihres Vaters?«
    »Darin sind wir uns einig.«
    »Wie kommt es, daß Valerian trotzdem zur Schutztruppe ging?«
    »Auf Betreiben meiner Mutter. Es gehört hier in Südwest zum guten Ton, daß zumindest ein Familienmitglied in der Armee dient. Übrigens ist das ein ewiger Streitpunkt zwischen meinen Eltern – und zwischen Vater und Valerian, natürlich.«
    Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Dann sind Sie wohl Vaters Liebling, nehme ich an.«
    Er zuckte mit den Schultern, ohne das Lächeln zu erwidern. »Ich bin taub. Ich werde das Geschäft nie übernehmen können.«
    »Und das ist wichtig für Ihren Vater?«
    »Es ist der einzige Grund, weshalb er sich immer wieder um Valerians Zuneigung bemüht. Er will seinem Nachfolger die Minen nicht im Streit überlassen.«
    Sie seufzte. »Allmählich bin ich froh, daß meine Familie so überschaubar ist. Mein Bruder und ich haben uns immer gemocht. So lange ich mich erinnern kann, gab es keinen Streit zwischen uns.«
    »Niemals?«
    »Nein, nie.«
    »Dann sind Sie zu beneiden. Weil Liebe umsonst zu sein scheint, vergißt man leicht, wie kostbar sie ist.«
    Sie schaute ihn eine Weile lang eingehend an, dann rang sie sich endlich zu der Frage durch, die ihr schon die ganze Zeit über auf der Zunge lag: »Ist das der Grund, weshalb Sie jeden Abend diese Schmierenkomödie mit Ihrem falschen Oboenspiel aufführen?«
    Er schlug verlegen die Augen nieder. »Sie haben es also bemerkt?«
    »Als ich vorhin aufwachte, habe ich gehört, wie wunderschön Sie spielen können. Haben Sie die Aufmerksamkeit der anderen wirklich so nötig, um ihnen etwas Derartiges vorzuschwindeln?«
    »Mitleid ist die einzige Form der Zuneigung, die meine Mutter mir jemals schenken wird.« Er klang verbittert wie ein alter Mann, mehr noch, als er hinzufügte: »Was das angeht, muß ich fast dankbar sein für meine Taubheit.«
    Noch einmal kreuzten sich ihre Blicke, dann sagte er: »Meinen Sie, Sie können jetzt zurück zum Haus laufen?«
    Sie sah ihn noch einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte sie leise: »Ich denke schon.«
    Er ergriff ihre Hand. »Dann kommen Sie.« Sein Jungengrinsen nahm dem folgenden Satz die Verbitterung: »Wenn Sie Glück haben, macht sich schon jemand Sorgen um Sie.«

KAPITEL 5
    Titus Kaskaden kehrte

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