Göttin der Wüste
errichtet worden. Das jedoch war unmöglich, da die Äste zu verschiedenen Pflanzen gehörten; manche waren dornig und verwinkelt wie Spinnenbeine, andere geschwungen und mit vertrockneten Blättern besetzt.
Schon von weitem hatte der Termitenbau beeindruckend gewirkt, doch aus der Nähe war er geradezu spektakulär. Er überragte Cendrine um mehr als das Doppelte, sie mußte an ihm emporschauen wie an einem mittelalterlichen Festungsturm. Sie vermochte sich das Labyrinth der Gänge und Höhlen in seinem Inneren kaum vorzustellen, ebensowenig die Zahl der Insekten, die darin Platz fand. Es mußten Millionen sein.
Nichts von alldem machte ihr jetzt noch angst. Reglos stand sie da, nur noch zwei Schritte von dem Bau entfernt und von einer Faszination ergriffen, die kaum mehr ihre eigene zu sein schien. Es kam ihr vor, als träume sie und nähme dennoch die Wirklichkeit um sie herum viel klarer, viel deutlicher wahr als sonst, so als hätte sie bis heute mit ungeschützten Augen in ein Wasserbecken geblickt, und täte das gleiche nun durch ein Glasscheibe. Alles erschien ihr greifbarer, wahrhaftiger. Da waren Nuancen in den Farben, die kein Maler hätte mischen können, und in der Luft schwebten Töne, die weder Mensch oder Tier noch der Wind erzeugen konnten.
Wie in Trance streckte sie eine Hand aus, ging noch weiter nach vorne, bis ihre Fingerspitzen die Oberfläche des Termitenbaus berührten. Er fühlte sich trocken an, aber keineswegs brüchig, fast wie Zement, der mit besonders grobem Sand gemischt worden war. Winzige Öffnungen markierten die Zugänge der Termiten, doch im Augenblick war kein einziges Insekt zu sehen. Sie waren alle dort drinnen, warteten vielleicht. Es fragte sich nur, worauf.
Cendrine verspürte den Drang, sich mit ausgebreiteten Armen gegen den Bau sinken zu lassen, ihn zu umarmen, soweit es nur ging, als wäre das Gebilde ein alter Freund. Nur die Dornenzweige, die im Weg waren, hinderten sie daran. Das träumerische Gefühl, das sie im Bann hielt, ließ nicht zu, daß sie sich verletzte.
Sie war jetzt völlig gelassen, fühlte sich so leicht, so leer. Wenn sie den Bau doch nur umarmen könnte! Erst ein einziges Mal hatte sie sich zu etwas so hingezogen gefühlt.
Aber es ging nicht. Sie war vernünftig. Sehr vernünftig.
Langsam sank sie am Fuß des Termitenbaus zu Boden. Das Gras knisterte, als ihre Knie es berührten, knisterte lauter und klarer als jemals zuvor, wie Worte in einer bizarren Sprache, die alles mögliche bedeuten mochten, einen Aufschrei vor Schmerz oder auch eine Einladung. Cendrines Sinne waren geschärft für das Unmögliche, aber sie halfen ihr nicht zu verstehen. Sie hörte, aber begriff nicht; sie sah, aber erkannte nicht. Sie war nicht eins mit diesen Dingen, würde es vielleicht niemals sein. Und doch spürte sie die Nähe einer Offenbarung, die sie nur erahnen konnte, irgendwo jenseits des Horizonts ihrer Empfindungen und Gedanken.
Ich bin auserwählt, durchfuhr es sie, und in stiller Ekstase schloß sie ihre Augen. Die Farben und das Licht verblaßten, und als sie die Lider wieder hob, war sie – anderswo.
Um sie war Dunkelheit. Ganz allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das fehlende Licht. Formen schälten sich aus der Finsternis. Dabei wurde ihr bewußt, daß sie wirklich an diesem Ort war. Kein Traum, in dem man alles sieht und hört, egal ob es dunkel ist oder hell, ob man im Wasser treibt oder im Himmel. Statt dessen Wirklichkeit, aber eine andere als jene, die sie kannte.
Sie war hier, keine Frage. Sie konnte festen Boden unter ihren Füßen spüren, und als sie ein wenig zur Seite trat, ertasteten ihre Hände eine Wand. Beides erschien ihr leicht gerundet, so als befände sie sich im Inneren einer Röhre, mehrere Schritte breit und ebenso hoch. Das Rauschen der Akazienblätter war verklungen, statt dessen vernahm sie kraftvolles Windsäuseln. Ein heftiger Luftzug blies ihr ins Gesicht.
Als sie einige Schritte vorwärts machte, bemerkte sie, daß der Boden vor ihr leicht anstieg. Noch immer war ihr, als schlafwandle sie, nur daß der Traum sie ihre Umgebung nicht allein sehen und hören, sondern auch fühlen ließ. Dieser Boden befand sich tatsächlich unter ihren Füßen, und der Luftstrom war so kalt, daß sie fröstelte.
Hinter ihr ertönte ein weiteres Geräusch. Nicht mehr nur der Wind, der in ihren Ohren pfiff, sondern etwas anderes: ein schrilles Knirschen und Schaben, wie von Stahl oder Stein, die aneinander reiben. Sie konnte etwas
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