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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hören, das Schritte sein mochten, klickende Laute, harte Absätze, die eilig näher kamen – so eilig, daß es unmöglich war, zu schätzen, wie viele es waren. Vielleicht zwei, vielleicht sechs oder ein Dutzend.
    Angestrengt starrte sie zurück, in die Ungewisse Tiefe dieses Stollens, aus der die Geräusche heranrasten. Die Dunkelheit schien plötzlich noch schwärzer zu werden, ein Schatten, der auf sie zuschoß.
    Cendrine fuhr herum und hetzte los, bergauf, dem pfeifenden Luftzug entgegen. Nach wenigen Schritten stellte sie fest, daß sie ihren Verfolger auf Distanz hielt, er kam nicht mehr näher, blieb im immer gleichen Abstand hinter ihr. Doch wenn sie langsamer wurde, holte er auf, und sie fürchtete sich davor, diesen Schatten noch einmal zu sehen und das schreckliche Schleifen und Klicken so nahe an ihren Ohren zu hören.
    Sie registrierte jetzt, daß der Boden keineswegs überall gleichermaßen fest war. An manchen Stellen war er knöchelhoch mit Sand und Geröll bedeckt. Ein durchdringender Geruch trieb durch den Schacht, teils erdig, teils wie verschimmeltes Holz. Doch wenn dies ein unterirdischer Stollen war, wie war sie dann hierhergekommen, und was war es, das sie verfolgte?
    Solche Gedanken schossen ihr in Windeseile durch den Kopf, aber in ihrer Panik blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte laufen, immer weiter laufen, während das Klicken und Schleifen in ihrem Rücken konstant blieb, sogar näher kam!
    Sie stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder hoch, rannte weiter. Ihr Verfolger holte dadurch erneut ein Stück auf. Sie hörte die Schritte gleich hinter der letzten Biegung des Stollens, und wenn sie jetzt stehenblieb und zurückschaute, würde sie sehen können, wie es sich aus der Finsternis schob.
    Ihre Angst vor der Dunkelheit war haltlosem Entsetzen gewichen, scharf wie ein Skalpell, das ihr Gehirn in dünne Scheiben schnitt und ihr dabei nach und nach die Selbstbeherrschung raubte. Ihre Bewegungen wurden unkontrolliert, ihr Atem unregelmäßig. Sie schnappte nach Luft, als drücke ihr etwas die Kehle zu. In ihren Ohren tobte nur noch ihr eigenes Keuchen, die Umgebung versank hinter einer Glocke aus Erschöpfung und Stumpfsinn. Sie spürte den verzweifelten Wunsch, sich hinzuwerfen, einfach liegenzubleiben, bis alles ein Ende hatte; doch was immer es war, das sie weitertrieb, es war ebensowenig ein Teil von ihr wie die Macht, die sie in den letzten Minuten gesteuert hatte.
    Wieder sah sie den Termitenbau vor sich, wie er größer wurde und größer, und plötzlich kam ihr eine Wahnidee, die so grotesk war, daß sie am liebsten laut aufgelacht hätte. Doch die Wirklichkeit war alles andere als lachhaft, und wenn dieser Stollen das war, was sie befürchtete, dann war nicht nur sie, sondern die ganze Welt dem Wahnsinn verfallen.
    Das Klicken und Schleifen hinter ihr, diese raschen, abgehackten Schritte, die von wer weiß wie vielen Beinen stammen mochten – Geräusche, wie sie Insekten verursachten, wäre das menschliche Gehör nur empfindlich genug, sie zu hören. Und dieser Stollen aus Lehm und Sand und feuchtem Holz … ja, es war möglich. Großer Gott, es war möglich!
    Die Dunkelheit um sie herum gerann zu weiteren Schatten, riesenhaften Umrissen aus Schwärze, zitternd, bebend. Das Klicken! Von überall dieses furchtbare Klicken! Und die Geräusche von etwas, das aneinander schleifte, kein Metall, auch kein Stein, sondern Horn und Chitin!
    Ein neues Geräusch mischte sich unter ihren jagenden Atem, durchdrang und übertönte ihn. Erst war es ein sanftes Brummen, dann schwoll es langsam an und ab, formte eine Tonfolge, eine Melodie …
    Aus allen Richtungen schoß die Finsternis auf sie zu, schloß sie ein wie in einen Kokon, aus Schatten gewoben und vom eiskalten Luftstrom an ihren Leib gepreßt.
    Nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen. Nichts mehr hören außer der Melodie.
    Die Melodie einer Oboe.
    Sie öffnete die Augen und entdeckte Adrian. Er kauerte neben ihr im Gras und spielte auf seinem Instrument, den Blick in eine Ferne gerichtet, die weit hinter dem Horizont lag, in einem Reich der Musik und der Klänge, einem Refugium der Heilung.
    Alle Angst fiel mit einem Schlag von ihr ab. Fort war die Panik, fort das Entsetzen. Selbst als sie den Termitenbau sah, der unweit von ihr in den Himmel ragte, verspürte sie keinen Schrecken mehr. Sie war zurück an einem Ort, den sie kannte.
    Adrian setzte die Oboe ab und betrachtete sie sorgenvoll.
    »Wie geht es Ihnen?«

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