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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Verwirrung beim Angriff auf die Wächter genutzt und war den Flammen entkommen. Alle drei waren so dicht mit Ruß bedeckt, daß nicht zu erkennen war, ob sie bereits Verbrennungen davongetragen hatten.
    Cendrine bekam vor Aufregung kaum Luft. Die Eltern der Kinder hatten die Dorfbewohner durch ihr Auftreten in Panik versetzt, um ihren Kindern die Flucht zu ermöglichen. Dafür hatten sie sogar den eigenen Tod in Kauf genommen.
    Jetzt hatten auch andere die fliehenden Kinder entdeckt. Erste Rufe wurden laut, und doch wagte niemand, den Flüchtenden zu folgen. Einer der überlebenden Wachtposten holte aus und schleuderte seinen Speer. Zielsicher raste das Wurfgeschoß hinter den Kindern her und traf eines der Mädchen zwischen den Schulterblättern. Mit einem dumpfen Laut ging es zu Boden.
    Aus einer Hütte löste sich ein Mann und warf sich auf das zweite Mädchen. Es strampelte und schrie, während es unter dem Angreifer begraben wurde. Der kleine Junge, höchstens vier oder fünf Jahre alt, blieb stehen, und es sah einen Moment lang aus, als wolle er sich mit geballten Fäusten auf den Mann stürzen, der seine Schwester festhielt. Doch das Mädchen brüllte ihm etwas zu, immer wieder die gleichen Silben, bis der Mann ihr eine Hand auf den Mund preßte. Der Junge aber hatte verstanden. Rasch warf er sich herum und rannte auf seinen kurzen Beinen weiter, an den äußeren Hütten vorbei nach Norden. Den Hang hinauf. Auf Cendrine und die Zwillinge zu.
    Zwei Herero erreichten den Mann mit dem kreischenden Mädchen und rissen ihn grob zur Seite. Sekundenlang lag das Mädchen starr vor Schreck auf dem Rücken, blinzelte ergeben zum Himmel und zur glosenden Sonne empor. Dann hob ein Herero seinen Speer mit beiden Händen und rammte ihn kraftvoll nach unten, geradewegs durch den Brustkorb des Mädchens.
    Cendrine schrie auf, ein gellender Laut voller Empörung und Entsetzen. Sie ließ die Zwillinge endgültig los und sprang aus ihrem Versteck. Ohne nachzudenken, rannte sie den Hang hinunter, stolpernd, immer wieder Gefahr laufend, sich im Saum ihres langen Kleides zu verheddern. Als sie bei dem Jungen angelangt war, riß sie ihn in ihre Arme, drückte ihn fest an sich, bis seine Gegenwehr nachließ, und erwartete mit stoisch vorgerecktem Kinn die näherkommenden Eingeborenen.
    Halb erwartete sie, daß die Männer sie ebenso niedermachen würden wie die anderen. Beschützerin eines Hyänenfeindes, fuhr es ihr siedendheiß durch den Kopf, immer und immer wieder.
    Sie werden dich töten. Ja, das werden sie auf jeden Fall.
    Aber die Männer mit den Speeren blieben etwa fünf Schritte vor ihr stehen, und auch der nachdrängende Pulk der Dorfbewohner verharrte. Ein Herero fuchtelte aufgebracht mit seiner Waffe, andere schrien zornige Sätze in ihrer schnellen, unverständlichen Sprache. Aber keiner wagte näher zu kommen.
    »Ich werde dieses Kind mitnehmen«, sagte Cendrine laut und war selbst erstaunt, wie beherrscht und ruhig ihre Stimme klang. Das ist der Schock, dachte sie fiebernd. Ihre Angst konnte jeden Augenblick zurückkehren. Mochte das Schicksal ihr gnädig sein, wenn sie Schwäche zeigte!
    »Ich nehme dieses Kind mit mir«, sagte sie noch einmal und drehte sich um, dem Hang und den Zwillingen entgegen, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.
    »Halt!« rief hinter ihr eine Stimme mit starkem Akzent.
    Cendrine blieb stehen, wandte sich aber nicht um.
    »Das da ist kein Kind«, sagte die Stimme. »Es ist ein Geist. Ein böser Geist.«
    Cendrine setzte sich langsam wieder in Bewegung, ohne den Sprecher weiter zu beachten. Der Aufruhr in ihrem Rücken wurde lauter, und einige Schritte vor ihr prallte funkenschlagend ein Speer auf ein Stück Fels. Der Werfer hatte sie absichtlich verfehlt. Nur eine Warnung.
    Cendrine ging weiter. Allmählich kam ihr zu Bewußtsein, worauf sie sich eingelassen hatte. Überall im Land tobte der Herero-Aufstand, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich mit einem ganzen Dorf von Eingeborenen anzulegen. Möglich, daß sie nun die Schuld daran trug, daß die Unruhen auch auf das Anwesen übergriffen. Im Augenblick aber war ihr sogar das gleichgültig.
    Das Gewicht in ihren Armen war Antrieb genug, sich nicht von solchen Gedanken beeinflussen zu lassen. Sie war eine Lehrerin. Sie bereitete Kinder auf ihr zukünftiges Leben vor. Und diesem hier würde sie das Leben retten, ganz gleich, wie ihre Chancen standen. Lieber würde sie sterben, als den Jungen der blutrünstigen Menge

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