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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bewacht, die mit kurzen Speeren und Messern bewaffnet waren. Zum erstenmal wurde Cendrine bewußt, daß keiner der Eingeborenen europäische Kleidung trug, wie sie es während der Arbeit im Anwesen taten. Hier waren alle nur in Tücher und Lendenschurze gehüllt.
    Selbst aus der Entfernung war deutlich zu erkennen, daß rund um die bewachte Hütte früher weitere Unterkünfte gestanden hatten. Vereinzelte Pfähle und knöcheltiefe Gruben verrieten, daß die Bauten offenbar abgerissen und anderswo wieder aufgebaut worden waren. Dadurch war ein freier Platz von etwa zwanzig mal zwanzig Meter entstanden, in dessen Zentrum nur noch die eine Hütte stand.
    Die Menschengruppe formierte sich in respektvollem Abstand darum. Schließlich hatte sich ein weiter Kreis gebildet.
    »Was tun die da?« fragte Cendrine atemlos.
    Salome schien sich unter Cendrines Frage zu winden, doch keines der Mädchen gab eine Antwort.
    »Zum Teufel, was geht da vor?« Cendrines Tonfall war scharf und klang in ihren eigenen Ohren viel zu schrill. Eine gräßliche Vorahnung überkam sie.
    Die acht Männer, die die Hütte bewachten, waren größer als die anderen. Herero, durchfuhr es Cendrine. Im Grunde war daran nichts Ungewöhnliches. Sie wußte, daß im Dorf Angehörige der verschiedensten Völker lebten. Die San waren in der Überzahl, gewiß, aber es gab ebenso Herero, ein paar Nama und drei oder vier Damara-Familien. Trotzdem lief ihr beim Anblick der bewaffneten Krieger ein Schauer über den Rücken.
    Aus ihrem Unbehagen wurde pures Entsetzen, als aus dem Inneren der Hütte plötzlich Schreie ertönten. Ein verzweifeltes Kreischen hob an, durchsetzt vom Weinen kleiner Kinder. Zu sehen war nach wie vor niemand. Die acht Wächter sorgten dafür, daß der Eingang geschlossen blieb.
    Cendrine packte Lucrecia an den Schultern und riß sie grob zu sich herum. »Was für Leute sind in der Hütte?« fuhr sie das Mädchen an.
    Lucrecia verdrehte den Kopf, um Salomes Blick zu erhaschen, aber Cendrine ging dazwischen. »Heraus mit der Sprache!«
    Lucrecia sagte noch immer nichts, preßte einfach fest die Lippen aufeinander, vielleicht vor Schreck, vielleicht aber auch aus purem Trotz.
    »Es sind Hyänenmenschen«, sagte Salome hinter Cendrines Rücken. »Sie essen Kinder.«
    Cendrine ließ Lucrecia los, die sich mit Tränen in den Augen die schmerzenden Schultern rieb. »Was sagst du da?«
    Salome nickte langsam, um ihren Worten Gewicht zu verleihen.
    »Hyänenmenschen. Die Herero wollen sie töten und den Göttern als Opfer für eine gute Ernte darbringen.«
    Cendrine rang aufgeregt nach Luft. »Ihr habt mich hergeführt, um bei einer Hinrichtung zuzuschauen?«
    Die Zwillinge schwiegen betreten.
    »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?« zischte sie wütend.
    »Das ist hier nichts Ungewöhnliches«, verteidigte sich Lucrecia. »Es passiert immer wieder, einmal oder zweimal im Jahr.«
    »Das stimmt«, bestätigte Salome. »Wir dachten, Sie würden es gerne einmal sehen.«
    »Hast du das gedacht oder deine Schwester?« gab Cendrine zurück.
    Salome schaute betreten zu Boden, während Lucrecia die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. »Sie können mich nicht leiden! Sie konnten mich noch nie leiden!«
    »Unsinn!« entgegnete Cendrine. Aber natürlich hatte die Kleine recht: Salome war ihr immer die Liebere von beiden gewesen – aus gutem Grund, wie es schien. Salome allein wäre nie auf eine derart abscheuliche Idee gekommen.
    Es sind Kinder, ermahnte sie sich. Wie kannst du ihnen übelnehmen, daß sie sich für so etwas interessieren?
    Sie erinnerte sich daran, wie Elias ihr einmal erzählt hatte, daß er und ein paar andere Jungs sich in die Nähe der Exerzierplätze der Armee geschlichen hatten. Fasziniert hatten sie beobachtet, wie ein Soldat vor das Hinrichtungskommando geführt und erschossen worden war. Die Todesstrafe war daheim ebenso alltäglich wie hier – mit dem Unterschied, daß die Eingeborenen sie nach anderen Gesetzen verhängten.
    Noch einmal blickte sie hinunter zum Dorf. Die Menschen im Ring um die Hütte stimmten jetzt einen Gesang an, sehr ruhig, fast traurig. Das Schreien im Inneren der Hütte war noch schriller geworden, und einmal, als der Eingang durch einen Stoß von innen erbebte, rammte einer der Herero blindlings seinen Speer durch die Tür aus geflochtenen Zweigen. Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Hütte, dann ging das Geschrei von neuem los, noch verzweifelter.
    Cendrine zog die Mädchen an sich und

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