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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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über offenen Feuern, die auf den Wegen zwischen den Hütten brannten. Der Anblick ähnelte jenem der San-Siedlung in Windhuk, wenngleich hier alles ein wenig primitiver zuzugehen schien. Während ihrer Arbeit bei den Weißen mochten die Eingeborenen die Sitten ihrer Dienstherren nachahmen, doch hier, in ihrer natürlichen Umgebung, führten sie das Leben seßhaft gewordener Nomaden.
    Auf den vom Berghang abgewandten Seiten des Dorfes erstreckten sich karge Äcker. Auf einem waren zwei Ochsengespanne dabei, den trockenen Boden zu pflügen, die anderen Felder waren bereits von langen Furchen durchzogen. Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder hatten sich am Rand des vorderen Ackers versammelt, während ein alter Mann auf sie einredete. Cendrine und die Zwillinge waren relativ weit von der Gruppe entfernt, dennoch konnten sie deutlich die Falten im Gesicht des Alten erkennen; Augen und Mund waren nur drei weitere Furchen inmitten seiner zerklüfteten Züge.
    »Ist es das, was ihr mir zeigen wolltet?« fragte Cendrine verwundert.
    Die Mädchen nickten. »Das Aussaatritual der Eingeborenen«, sagte Salome, und Lucrecia fügte hinzu: »Wir sind spät dran. Sie haben schon angefangen.«
    Die drei kauerten sich hinter ein paar Felsbrocken und spähten darüber hinweg den Hang hinab. Die San am Rande des Ackers – es waren vier oder fünf Dutzend – verteilten sich jetzt an den Seiten des Feldes, bis die Fläche völlig von ihnen umschlossen war. Der alte Mann hatte sich unter sie gemischt; es gab keinen Zeremonienmeister.
    »Wir haben den Anfang verpaßt«, sagte Lucrecia noch einmal, sichtlich stolz darauf, mit ihrem Wissen prahlen zu können. »Die Ältesten versammeln sich in einer der größten Hütten. Jeder bringt im Auftrag seiner Familie ein paar Samen mit, Hirse, Mais oder was sonst auf den Feldern ausgesät werden soll. Dabei sind auch immer ein paar magische Samen von Getreidesorten, die keinen Namen haben, weil ein Name sie absterben lassen würde. Werden diese Samen ausgesät, wächst aus ihnen keine Pflanze. Sie sind nur da, um die anderen zu beschützen. Sofia – das ist eine der Frauen, die im Garten arbeiten – hat gesagt, die namenlosen Samenkörner sind wie Schäfer, die alle anderen Samen wie ihre Schafe behüten.«
    Sofia also. Cendrine prägte sich den Namen ein. Zumindest wußte sie nun, welche der Eingeborenen Lucrecias geheime Vertraute war.
    »Wenn die Samen aller Familien eingesammelt sind, geht einer der Ältesten hinaus aufs Feld und vergräbt einige davon an verschiedenen Stellen im Boden.« Lucrecia kicherte plötzlich. »Sofia nennt das ›den Samen der Erdenmutter in den Schoß legen‹. Es ist wichtig, in welcher Hand und in welchen Fingern man die Samen hält. Dadurch werden böse Erdgeister davon abgehalten, den Samen von unten aus dem Boden zu fressen.«
    Cendrine waren schon vorher die vielen Vögel aufgefallen, die auf den Dächern der Hütten unweit des Ackers saßen. »Ich glaube, Sofias böse Geister kommen eher aus der Luft.« Schon erhoben sich hier und da einzelne Vögel und kreisten über dem Acker. Immer wenn einer zu Boden stieß, wurde er von den San durch wildes Geschrei fortgejagt, ehe er einen der Samen aufpicken konnte.
    Lucrecia erzählte weiter von allerlei Vorbereitungen, die getroffen wurden, um Geister und Dämonen abzuschrecken, aber Cendrine hörte kaum noch zu. Vielmehr beobachtete sie, wie sich die Frauen aus den Reihen lösten und ebenfalls vereinzelte Samen in dem staubigen Erdreich vergruben. Laut Lucrecia war dies der zweite Schritt des Rituals. Zuletzt, so erklärte sie, würde dann die eigentliche Aussaat beginnen, gefolgt von weiteren Zeremonien, die dafür sorgen sollten, daß in den kommenden Tagen Regen fiel.
    Nachdem sich die Frauen vom Feld zurückgezogen hatten, schlossen sich alle Umstehenden zu einem Pulk zusammen, der sich vom Acker abwandte und zwischen den Hütten hindurch zur anderen Seite des Dorfes strömte.
    »Was tun sie denn jetzt?« fragte Cendrine. »Hast du nicht gerade gesagt, als nächstes sei die Aussaat an der Reihe?«
    Die Zwillinge wechselten wieder einen von diesen stummen Blicken, die Cendrine allmählich beunruhigten. Irgend etwas ging hier vor, und die Mädchen dachten offenbar nicht daran, ihr zu verraten, was es war. Ihr wurde schlagartig klar, daß es ihnen in Wahrheit gar nicht um das Saatritual der San ging.
    Der Pulk näherte sich jetzt einer Hütte im westlichen Teil der Ansiedlung. Sie wurde von acht Männern

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