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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auszuliefern. Herrgott, und dies waren die gleichen Menschen, die von morgens bis abends die Kaskadens umsorgten … die gleichen Menschen, die nachts ihre Zimmertür bewachten! Im Moment kamen sie ihr vor wie die Bewohner einer anderen Welt, grausam und unsagbar fremd.
    »Fräulein«, rief der Eingeborene. »Sie machen einen Fehler. Das Kind ist böse. Durch und durch böse.«
    »So?« Noch immer hielt sie nicht an, schaute sich auch nicht um.
    »Was hat es getan? Menschen verbrannt? Kinder ermordet?«
    »Verurteilen Sie uns nicht. Das hier ist nicht Ihre Sache.«
    Sie schnaubte nur verächtlich und ging weiter. Das aufgebrachte Palaver in ihrem Rücken wurde nicht leiser, die Eingeborenen folgten ihr. Sie hatte jetzt etwa Dreiviertel des Weges bis zu den Zwillingen zurückgelegt. Die Mädchen waren kreidebleich. Salome sah aus, als würde sie jeden Augenblick losheulen.
    »Lauft zum Haus!« zischte sie ihnen zu, überlegte es sich aber gleich darauf anders. »Nein, wartet! Wir gehen zusammen. Das ist sicherer.«
    Sie erreichte die Felsformation und stand bald darauf mit den Zwillingen auf der Hügelkuppe. Das Scharren von Füßen und das Gezeter zahlreicher Stimmen kam näher. Die Eingeborenen holten auf. Langsam, ohne sie zu jagen; aber sie holten auf.
    Cendrine fuhr entschlossen herum.
    »Bleibt stehen!« rief sie den Menschen zu. Entsetzt erkannte sie, wie viele es geworden waren. Vier, fünf Dutzend Farbige, darunter in der ersten Reihe die bewaffneten Herero. »Ihr sollt stehenbleiben!«
    Die Menge gehorchte. Nur der San, der zu ihr gesprochen hatte, machte einen weiteren Schritt auf sie zu.
    »Sie dürfen das nicht tun«, sagte er. Hinter ihm verstummten alle anderen. »Sie wissen nichts über uns. Nichts über dieses Kind.«
    Sie ging nicht darauf ein. »Wer ist eure Herrin?« fragte sie statt dessen.
    »Die Dame des Hauses«, gab der San nach kurzem Zögern zurück und hielt zugleich mit einem Wink einen Herero zurück, der auf Cendrine zustürzen wollte. Der Bewaffnete, fast zwei Köpfe größer als der San, gehorchte nur murrend.
    »Madeleine Kaskaden ist auch meine Herrin«, sagte Cendrine. »Ich unterstehe ihr allein. Was also gibt dir das Recht, mich aufzuhalten?« Sie fühlte sich unwohl bei diesen Worten, ihr eigener schneidender Tonfall war ihr fremd.
    »Die Herrschaften mischen sich niemals in unsere Angelegenheiten«, entgegnete der San. »Das ist ein« – er suchte nach dem richtigen Wort – »ein ungeschriebenes Gesetz.«
    »Ein Gesetz, das nicht geschrieben steht, ist kein Gesetz«, gab sie bestimmt zurück. »Und es steht geschrieben, daß ein Mensch nicht das Leben eines anderen nehmen darf.«
    »Was Sie in Ihren Armen halten, ist kein Mensch.«
    Es hatte keinen Sinn, zu argumentieren. Mit einem Wink gab sie den Zwillingen zu verstehen, weiterzugehen. Als sie ihnen folgte, preßte sich der Junge fester an ihren Oberkörper, seine erste Regung, seit er den Widerstand gegen sie aufgegeben hatte. Er vertraute ihr.
    Hochaufgerichtet schritt sie den Hang zum Tal der Kaskadens hinunter. Bald waren sie von Weinreben umgeben. Cendrine schaute nicht zurück, hörte aber, daß sich die Erregung der Eingeborenen erneut in wilden Streitereien Bahn brach. Dennoch wurden die Geräusche leiser. Trotz aller Wut wagten sie es nicht, die Hand gegen eine Weiße zu erheben. Noch nicht. Cendrine wußte, daß sie sich auf einen Schlag Dutzende von Feinden gemacht hatte. Nicht auszudenken, was ihr bevorstand, falls es im Tal tatsächlich zu einem Aufstand kam.
    Der San-Junge war sehr klein und leicht. Trotzdem erlahmten allmählich ihre Arme, und schließlich, kurz bevor sie die Außenmauer der Gärten erreichten, mußte sie ihn absetzen. Einen Moment lang befürchtete sie, er könne sich losreißen und fortlaufen, doch ihre Sorge war unbegründet: Stumm, mit ausdruckslosem Gesicht, lief er neben ihr her und ließ zu, daß sie seine Hand hielt.
    Die beiden San am Nebeneingang schauten verwundert auf, als sie den Jungen bemerkten. Aber offenbar wußten sie nicht, wer er war, und nach einer argwöhnischen Musterung verloren sie das Interesse. Gut, dachte Cendrine grimmig, ihr werdet schon noch früh genug erfahren, wen ihr da habt passieren lassen.
    Sie schickte die erschöpften Mädchen auf ihre Zimmer, um sich zu waschen und umzuziehen. Sie selbst blieb unschlüssig vor dem Haus stehen. An wen sollte sie sich wenden? Titus war wie üblich unterwegs, und Madeleine würde bei aller Nächstenliebe kein Verständnis

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