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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dafür haben, daß sie in Zeiten wie diesen das ganze Dorf gegen sich aufbrachte. Und hatten die Zwillinge nicht gesagt, derartige Hinrichtungen seien schon häufiger vorgekommen? Madeleine war damals nicht eingeschritten, und sie würde es gewiß auch heute nicht tun.
    Blieb also nur Adrian. Cendrine lief mit dem kleinen San an der Hand zu den Ställen, erfuhr dort aber, daß Adrian am frühen Morgen nach Windhuk geritten war.
    Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überkamen sie mit aller Macht. Bisher war die Erkenntnis dessen, was sie getan hatte, nur vage zu ihr durchgedrungen. Doch jetzt brach die Barriere auf einen Schlag, und vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder von waffenschwingenden Herero, die sie und das Kind bei lebendigem Leibe verbrannten. Sie war auf sich gestellt. Es gab niemanden, der ihr einen Rat geben konnte.
    Sie ging in die Hocke und redete beruhigend auf den Kleinen ein, nur um zu erkennen, daß er kein Wort von dem verstand, was sie sagte. Ohnehin schien sie selbst Trost viel nötiger zu haben als er. Der Junge war apathisch, stand wahrscheinlich unter Schock. Was er brauchte, war ein Arzt, zumindest aber jemand, der mit ihm über das, was seiner Familie zugestoßen war, reden konnte.
    Endlich erkannte sie, was zu tun war. Sie befahl den Stallburschen, ein Pferdegespann fertigzumachen. Einen San, von dem sie wußte, daß er Waffen tragen durfte, stellte sie als ihren Kutscher ab.
    Bald darauf rollte der Wagen den Weg entlang zum Torhaus. Cendrine hatte den Jungen in eine Decke gewickelt und einen Arm um ihn gelegt. Noch immer ließ er alles widerspruchslos über sich ergehen.
    Sie wagte nicht, zurückzuschauen, aus Furcht, sie könne Madeleine an einem der Fenster entdecken. Aber die Folgen ihrer Entscheidung waren ihr längst egal. Was zählte, war, daß sie das Kind in Sicherheit brachte. Alles andere lag längst außerhalb ihrer Macht.
    Am Himmel zogen Regenwolken auf. Die Götter hatten das Opfer der Dorfbewohner akzeptiert.
    ***
    Unter der grauen Wolkendecke wirkte Windhuk kleiner als sonst, fast ein wenig verloren. Trotz des trüben Wetters war die Sicht ungemein klar und reichte von den Hügeln bis weit nach Norden. Vereinzelt fielen schon Tropfen vom Himmel, aber die ersten Schauer ließen noch auf sich warten.
    Cendrine hatte während ihrer Monate in Südwest bislang keinen einzigen Regentag erlebt. Und trotz all der Male, die sie sich Nässe und Abkühlung herbeigewünscht hatte, fühlte sie gerade jetzt ein starkes Verlangen nach Sonnenschein. So sehr also hatte sie sich bereits an dieses Land und seine gleißende Helligkeit gewöhnt: Der dunkle Himmel wirkte sich jetzt weit niederschmetternder auf ihre Stimmung aus, als er das jemals daheim in Bremen getan hatte. Der gläsern klare Blick bis zum Horizont, die Luft, die unter unsichtbarer Spannung zu vibrieren schien, und das düstere Zwielicht gaben ihr ein Gefühl völliger Verlassenheit. Ihre Hoffnungen schwanden zusehends.
    Das Pferdegespann passierte die Farmen am Rande Windhuks, schwenkte auf eine der breiteren Straßen und holperte an weißen Kolonialbauten vorüber. Cendrine bat den San, sie am Bahnhof abzusetzen. Sie wollte vermeiden, daß der Mann sah, wohin sie mit dem Jungen ging.
    Bald darauf waren sie und der Kleine zu Fuß unterwegs. Wieder fühlte sie sich von allen Seiten beobachtet, diesmal zu Recht. Eine weiße junge Frau, die an der Hand einen San-Jungen hinter sich herzog, mußte fraglos Aufmerksamkeit erregen. Niemand sprach sie an, aber zahlreiche Menschen blickten ihr nach, manche offen auf der Straße, die meisten aber verborgen hinter staubverschleierten Fensterscheiben.
    Und dann, ebenso unwillkürlich und überraschend wie beim ersten Mal, stand sie plötzlich im Viertel der San. Vor den Hütten blickten die Frauen von ihren Kesseln und Näharbeiten auf, und wieder stürzte eine Horde Kinder auf sie zu. Die Jungen und Mädchen bestürmten den kleinen San an ihrer Seite mit Fragen, die sie nicht verstand, und auch ihr junger Begleiter reagierte nicht darauf. Das Naheliegende wäre gewesen, einen deutschen Arzt aufzusuchen, doch eine innere Stimme sagte ihr, daß der Kleine unter seinesgleichen besser aufgehoben war. Vorausgesetzt, niemand erfuhr von den Umständen, unter denen der Junge sein Dorf verlassen hatte.
    Ihre Sorgen wurden bald zerstreut. Keiner zeigte Scheu vor dem Kind, keiner schien zu ahnen, was die Bewohner seines Dorfes in ihm gesehen hatten. Die San schienen außerhalb ihrer

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