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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Familienverbände wenig Kontakt miteinander zu pflegen, ihr Einzelgängertum kam dem Jungen jetzt zugute. Vielleicht würde sich nie ein San aus dem Kaskaden-Dorf hierher verirren und ihn wiedererkennen.
    Die Frauen erhoben sich jetzt von ihren Plätzen an der Feuerstelle und bildeten einen Kreis um Cendrine und das Kind. Eine streckte die Hand nach dem Jungen aus, und Cendrine ließ ihn zu ihr gehen. Die Frau bückte sich und redete auf das Kind ein, erhielt aber keine Antwort. Starr blickte der Junge durch sie hindurch. Die Züge der Frau verfinsterten sich, ihr Blick richtete sich argwöhnisch auf Cendrine. Sie zischte etwas in der San-Sprache, und sogleich wurde der Kreis der Frauen um Cendrine enger.
    Angst krampfte ihr die Kehle zusammen. Mit einemmal schlug ihr von überall kaum verhohlene Feindseligkeit entgegen. Die Frau, die zu ihr gesprochen hatte, hob den Jungen jetzt auf ihren Arm und drückte ihn an ihre nackten Brüste. Das Kind blickte ungerührt über ihre Schulter, kümmerte sich weder um sie noch um Cendrine.
    Aber Cendrine hatte in diesem Augenblick andere Sorgen als die Verfassung des Kleinen. Die Frauen schienen offenbar ihr die Schuld am Zustand des Jungen zu geben. Sie stammelte ein paar Sätze, die selbst in ihren eigenen Ohren kaum Sinn ergaben, und wollte nach hinten zurückweichen. Dort aber standen wie eine Mauer weitere San-Frauen, deren Gesichtsausdruck verriet, daß sie Cendrine nicht passieren lassen würden. Statt dessen wurde der Kreis nun immer enger, bis kaum noch ein Meter Cendrine von den bedrohlichen Frauen trennte. Sie überragte jede von ihnen um fast eine Haupteslänge, doch selbst wenn sie sich mit Schlägen und Tritten zur Wehr setzte, war abzusehen, daß sie nicht lange gegen solch eine Übermacht bestehen konnte. Wenn nicht ein Wunder geschah, war sie verloren.
    Das Wunder erschien in Gestalt eines kleinen Mannes, der aus einer der Hütten trat und wild gestikulierend auf die Frauen einbrüllte. Sogleich öffnete sich der Ring, und dem Mann wurde Einlaß in den engen Kreis gewährt.
    Cendrine erkannte sein Gesicht sofort. Es war dasselbe, das sie in der Nacht in der Mine gesehen hatte. Das Gesicht, das sich in der Dunkelheit über sie gebeugt hatte.
    »Ich spreche deine Sprache«, sagte der Mann nahezu akzentfrei. Seine Stimme klang wie das Rascheln der Akazienzweige, trocken und hell. »Vertrau mir.«
    Ihr jäher Schrecken verwandelte sich für einen Augenblick in neue Hoffnung. Doch gleich darauf sagte sie sich, daß es lächerlich war, einem Mann zu trauen, der nachts in ihr Zimmer eingebrochen war.
    Der San sprach laut und schnatternd auf die Frauen ein, trat dann vor und streichelte dem kleinen Jungen über das schwarze Kräuselhaar. Er wechselte einige Worte mit der Frau, die das Kind im Arm hielt, dann schickte er sie fort.
    »Sie wird sich um den Jungen kümmern«, sagte er an Cendrine gewandt. »Mach dir keine Sorgen mehr um ihn.«
    Es war so ungewohnt, daß er sie duzte. Seit Gott weiß wie vielen Monaten hatte das niemand mehr getan. Sie hatte bereits begonnen, sich wie eine alte Frau zu fühlen.
    Der San reichte ihr nicht einmal bis zur Schulter, und dennoch spürte sie die Autorität, die von ihm ausging. Sein Volk mochte keine Anführer kennen, doch es war unübersehbar, daß dieser Mann großen Einfluß besaß. Allein die Tatsache, daß die zornigen Frauen sich nun wieder an ihre Feuerstellen zurückzogen, sprach für das Gewicht seiner Worte.
    »Komm mit«, sagte er und deutete auf die Hütte, aus der er ins Freie getreten war. Sie lag einige Schritte abseits des Weges. Die Feuerstelle neben dem Eingang war kalt, die Asche verweht.
    »Ich würde lieber nach Hause gehen«, erwiderte Cendrine und versuchte, entschieden zu klingen.
    Der San lächelte mitfühlend. Wie bei allen Männern seines Volkes gab sein faltiges Gesicht keinerlei Aufschluß über sein Alter. Anders sein Körper: Er war drahtig, die dunkle Haut gestrafft. Cendrine vermutete, daß er nicht älter war als vierzig.
    »Ich habe den Frauen gesagt, ich würde dich über das Kind ausfragen«, sagte er. »Wenn du jetzt gehst, werden sie glauben, du läufst vor mir davon. Sie werden dich aufhalten.«
    Sie bemühte sich, dem Blick seiner stechenden Augen standzuhalten. »Du warst in meinem Zimmer.«
    »Wir reden«, sagte er bestimmt, »aber nicht hier draußen.« Erneut zeigte er auf die Hütte.
    Cendrine schaute sich unsicher um. Die Frauen saßen wieder vor ihren Hütten, doch alle beobachteten

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