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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Gott bald darauf über die Welt hereinbrechen ließ, blieb offen. Hatte Selkirk andere Quellen eingesehen? Es war unmöglich, daß ihn allein dieser eine Satz in die Kalahari geführt hatte.
    Sie wollte die Bibel zurück an ihren Platz stellen, doch irgend etwas hielt sie zurück. Sie brauchte einen Moment, ehe ihr klar wurde, was es war.
    Der Mann in der Wüste. Der Wanderer in den weißen Gewändern. Gab es eine ähnliche Szene nicht auch im Neuen Testament? Cendrine erinnerte sich, daß auch Jesus einmal hinaus in die Wüste gegangen und dort einem unheimlichen Mann begegnet war.
    Diesmal brauchte sie ungleich länger, ehe sie die entsprechenden Abschnitte fand. Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, stand im Evangelium des Matthäus geschrieben, auf daß er vom Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm.
    Wenige Zeilen darunter fand sie eine weitere Erwähnung: Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab.
    Cendrine schlug die Bibel mit beiden Händen zu und schob sie zurück ins Regal.
    Folge mir, hatte der Mann in ihrem Traum gesagt. Wohin hätte er sie geführt? War die heilige Stadt gleichbedeutend mit Jerusalem, oder gab es noch eine zweite, ungleich ältere? Und hätte der Wanderer auch von Cendrine verlangt, sich in eine Ungewisse Tiefe zu stürzen?
    So ein Unfug.
    Sie verließ ihr Zimmer in großer Eile, und während sie durchs Haus irrte, um nach den Zwillingen zu suchen, schaute sie mehr als einmal über ihre Schulter und erschrak vor jeder weißen Fläche.

KAPITEL 3
    Madeleine hatte tatsächlich angeordnet, sie nicht zu wecken, doch das erfuhr Cendrine erst beim Mittagessen. Die Hausherrin erwähnte die Ereignisse des vorherigen Tages mit keinem Wort, wußte statt dessen aber zu berichten, daß am Morgen einige Soldaten das Anwesen passiert hatten. Ein Offizier hatte sie um ein Gespräch ersucht und ihr die freudige Nachricht überbracht, daß in dieser Gegend derzeit nicht mit Übergriffen der Eingeborenen zu rechnen sei. Natürlich, so hatte der Soldat betont, solle dies niemanden zum Leichtsinn verleiten, doch zumindest die Straße von hier nach Windhuk gelte bis auf weiteres als sicher.
    Cendrine nutzte den Augenblick der allgemeinen Erleichterung, um ein Anliegen vorzubringen: Ob Madeleine es ihr wohl gestatte, noch einmal nach Windhuk zu fahren, um den Mantel des Pfarrers zu bezahlen und noch ein paar weitere Kleidungsstücke einzukaufen? Zudem, so schwindelte sie, wolle sie in der Poststation einen Brief an Verwandte in Bremen aufgeben.
    Es war Madeleine deutlich anzusehen, daß Cendrines Ansinnen ihr Mißfallen erregte, allerdings entsann sie sich offenbar des Umstandes, daß Cendrine keine ihrer Leibeigenen war. So bestand Madeleine lediglich darauf, daß sie in Begleitung des Butlers fuhr, der ebenfalls einiges in der Stadt zu erledigen hatte. Das freilich war Cendrine alles andere als recht, doch sie verzichtete auf Widerspruch und sagte sich, daß sie Johannes schon irgendwie abwimmeln würde.
    Die Fahrt verlief trotz des anhaltenden Regens ohne Zwischenfälle. Der Wagen wurde nicht wie üblich von zweien, sondern gleich von vier Rössern gezogen. Zudem saßen zwei bewaffnete San auf dem Kutschbock, um die beiden Fahrgäste bei Gefahr zu verteidigen.
    Johannes sprach während der gesamten Fahrt kaum ein Wort, gab nur knappe Antworten, wenn Cendrine ihn etwas fragte, und übte auch gegenüber den Kutschern äußerste Zurückhaltung. Er hatte das feine Benehmen eines Butlers zutiefst verinnerlicht und schien ungemein stolz auf seine hohe Stellung im Haushalt der Kaskadens zu sein. Mit Stallburschen und Wagenlenkern verband ihn nichts mehr, und auch ansonsten distanzierte er sich scharf von den anderen San. So hütete er sich etwa davor, Cendrine auf ihren Auftritt im Dorf anzusprechen. Nur einmal, als sie ihn direkt danach fragte, erwähnte er, daß ihm der Aberglaube der Eingeborenen zuwider sei – er sagte tatsächlich »Eingeborene«, obwohl es sich doch um Leute seines eigenen Volkes handelte. Cendrine wußte nicht recht, ob sie den kleinen Mann belächeln oder ablehnen sollte, und schließlich entschied sie sich, ihm mit dem gleichen Desinteresse zu begegnen, das er ihr entgegenbrachte. Sie sprach ihn kein weiteres Mal an.
    Sie erreichten Windhuk gegen drei Uhr. Die Kutsche setzte

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