Göttin der Wüste
beim Ausbruch aus seinem Labyrinth … ein Rammbock vor den Toren von Troja … die Sintflut, die die Welt in sich ertränkt … ein Gestalt gewordener Mythos, ein Titan in unsichtbaren Fesseln.
Die Sturmgesandten hoben Cendrine vom Boden empor, eine Gekreuzigte auf den Winden.
Die Welt schrie auf.
Folge mir.
***
Sie erwachte, wie sie eingeschlafen war: aufgewühlt, unruhig, von unbestimmten Ängsten erfüllt. Die Erste Stadt, irgendwo weit draußen im Wüstenmeer, war nicht mehr als eine vage Erinnerung an etwas, von dem sie gelesen und geträumt hatte. Den Sturm aber sah sie immer noch unbarmherzig vor sich, mehr noch, wenn sie die Augen schloß – dann schraubte er sich aus der Schwärze hinter ihren Lidern empor, als wolle er ihr die Augäpfel aus den Höhlen saugen.
Auch an die Gestalt erinnerte sie sich, an den Mann in den weißen Gewändern und an seinen Lockruf. Sie hatte schon andere bizarre Dinge geträumt, aber niemals waren sie so real gewesen, so greifbar. So bedrohlich.
Noch etwas stieg aus ihrer Erinnerung auf. Ein Buch, in feines Leder gebunden. Selkirks Aufzeichnungen.
Sie fuhr hoch, saß aufrecht im Bett. Tageslicht fiel durch die Fenster herein, tauchte ihr Bettzeug in leuchtendes Weiß. Es gab keine Spur von dem Lederband, nicht auf und nicht unter ihrer Decke.
Dennoch war sie sicher, daß das Buch kein Bestandteil ihres Traumes gewesen war. Sie hatte darin gelesen, fast die ganze Nacht lang, und sie erinnerte sich genau an den Inhalt, an das schwere Papier der Seiten, sogar an den Geruch des brüchigen Buchbinderleims.
Sie beugte sich über die Bettkante, blickte suchend über den Boden. Sie schaute sogar unters Bett. Nichts. Das Buch war fort.
Aufgebracht sprang sie auf, schüttelte Decke und Kissen aus und ging noch einmal in die Knie, um wirklich jeden Winkel des Fußbodens abzusuchen. Der Band blieb verschwunden. Auch eine Suche am Kamin, unter den beiden Sesseln und im Erker blieb erfolglos.
Zuletzt eilte sie auf nackten Füßen zur Zimmertür. Sie war nicht mehr sicher, ob sie sie am Abend abgeschlossen hatte. Der Schlüssel steckte, war aber nicht herumgedreht. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, daß sie nur ihr Nachthemd trug, riß statt dessen die Tür auf und schaute sich suchend auf dem Gang um. Die beiden San-Wächter, die am Abend hier gestanden hatten, waren fort. Hatte Madeleine sie abgezogen? Falls die Männer wirklich die Nacht über hier gewesen waren, mußten sie gesehen haben, ob jemand ihr Zimmer betreten und das Buch gestohlen hatte. Aber es konnte doch niemand davon wissen! Sie hatte den Band erst am Abend zuvor entdeckt, keiner konnte ahnen, daß sie ihn besaß.
Sie lief zurück ins Zimmer und warf einen Blick auf die vergoldete Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Halb zehn. Der Unterricht der Zwillinge hätte schon vor anderthalb Stunden beginnen sollen.
Warum hatte niemand sie geweckt? Das konnte nur bedeuten, daß Madeleine Anweisung gegeben hatte, sie ausschlafen zu lassen. Nach den Strapazen des vergangenen Tages zeugte das von weit mehr Verständnis, als sie der Hausherrin zugetraut hatte.
Hektisch begann sie sich zu waschen und anzuziehen und wäre dabei beinahe in das leere Versteck im Boden getreten. Fluchend zog sie die Steinplatte zurück an ihren Platz, konnte es sich aber nicht verkneifen, noch einmal mit den Fingern über die spröde Oberfläche und die eingekerbten Muster zu streichen. War dies wirklich ein Stein aus dem untergegangenen Henoch? Wie unbeschreiblich alt mußten dann diese Verzierungen sein. Mit einem Kopfschütteln verwarf sie ihre Träumereien und rollte geschwind den Teppich über die Platte.
Gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, kam ihr noch ein Gedanke. Hatte sie den Band am vorherigen Abend vielleicht in das Regal zu den Kinderbüchern gestellt? Eilig trat sie davor und untersuchte die Buchrücken. Enttäuscht kam sie zu dem Ergebnis, daß Selkirks Aufzeichnungen nicht darunter waren.
Sie wollte sich abwenden, als ihr Blick auf eine alte Bibel fiel. Die goldene Schrift war abgeblättert, der lederne Einband abgegriffen. Nach kurzem Zögern zog sie das Buch hervor und blätterte gedankenverloren darin. Der Name Henoch fiel gleich auf einer der ersten Seiten.
Und Kain erkannte sein Weib, die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.
Dies war das erste und einzige Mal, daß Kains Stadt erwähnt wurde; auch ihr Schicksal im Verlauf der Sintflut,
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