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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Cendrine vor den Läden am Bahnhof ab, und sie vereinbarte mit dem Fahrer, sie hier gegen sechs wieder abzuholen. Drei Stunden mußten genügen für das, was sie vorhatte.
    Sie wartete, bis der Wagen mit dem Butler um die nächste Ecke gebogen war, dann trat sie vor das Geschäft des ehemaligen Pfarrers. Zum erstenmal fiel ihr auf, wie laut ihre Schritte auf der hohlen Holzveranda klangen.
    Ob es wirklich die Geräusche waren, die den alten Mann alarmiert hatten, oder ob er ihre Ankunft vom Fenster aus beobachtet hatte, blieb ungewiß. Er riß die Tür auf, bevor sie die Klinke berührt hatte, und sein freundliches Lächeln vermittelte den Eindruck, er habe sie erwartet.
    »Treten Sie ein«, bat er, nachdem er sie herzlich mit Handschlag begrüßt hatte. »Ich muß sagen, der Mantel kleidet Sie wirklich vorzüglich.«
    Sie dankte ihm und trat an ihm vorbei in den Laden. Ihr war ein wenig unwohl zumute, aber sie überspielte ihr Zögern mit einem heftigen Räuspern.
    »Sie haben sich doch hoffentlich nicht erkältet?« sagte Pfarrer Haupt und schloß hinter ihr die Tür. »Das Wetter um diese Jahreszeit ist … ach was, Sie wissen schon.«
    Sie erwiderte sein Lächeln mit einem Nicken. »Ich bin gekommen, um den Mantel zu bezahlen.«
    Er winkte ab. »Aber ich sagte Ihnen doch –«
    »Ich weiß, was Sie gesagt haben«, unterbrach sie ihn. »Erlauben Sie mir, daß ich ihn dennoch bezahlen möchte.«
    Haupt seufzte tief, dann hob er die Schultern. »Wie Sie meinen.«
    Er nannte einen Betrag, der zweifellos viel zu niedrig war, nahm Cendrines Geld dann aber ohne sich weiter zu zieren entgegen und legte es in seine Kasse. Der Verkaufstresen war verglast, darunter lag Damenunterwäsche aus Seidenspitze.
    »Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?« fragte er und deutete mit weit ausholender Geste auf die Regale und Ständer. Cendrine erkannte auf einen Blick, daß Haupts Geschäft gut sortiert war, eine Überraschung angesichts der abschreckenden Ladenfront. Ob sie ihm raten sollte, das Schaufenster neu zu dekorieren? Aber, nein, schließlich ging es sie nichts an.
    »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte sie, »möchte ich Sie um etwas ganz anderes bitten.«
    Er wirkte nicht überrascht. »Um was geht es?«
    »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber –«
    »Scheuen Sie sich nicht«, unterbrach er sie lächelnd. »Sagen Sie mir nur, was ich für Sie tun kann.«
    Sie schluckte. »Es geht um einige Bibelstellen. Ich habe mich gefragt, ob Sie sie mir wohl erklären könnten.«
    Haupt stieß einen leisen Seufzer aus. »Seit dem Tod meines Bruders bin ich kein Priester mehr. Meine letzte Predigt liegt viele Jahre zurück. Aber ich denke, gewisse Dinge vergißt man nicht. Ich werde für Sie tun, was ich kann.«
    »Gehörte dieses Geschäft Ihrem Bruder?«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich …«, begann sie unsicher, »nun, ich hab’s mir gedacht. Pfarrer haben nicht unbedingt den Ruf, sich mit Damenunterwäsche auszukennen.«
    »Oh«, erwiderte er lachend, »glauben Sie mir, ich bin mit der Zeit zum Fachmann geworden. Aber Sie haben recht: Der Laden wurde von meinem Bruder gegründet. Wir sind gemeinsam nach Südwest gekommen, vor wie vielen Jahren? Neunzehn, wenn ich mich nicht täusche. Vor elf Jahren kam mein Bruder ums Leben.« Sein Blick verdüsterte sich. »Ein Unfall. Es gibt viele Unfälle in den Kolonien. Die Zahl der Letzten Ölungen, die ich hier in Windhuk gegeben habe, übertrifft die meiner Zeit als Pfarrer in Deutschland um ein Vielfaches.«
    »Es tut mir leid … ich meine, daß Ihr Bruder gestorben ist.«
    Er zuckte mit den Schultern, doch sie sah ihm an, daß die Erinnerung ihm immer noch weh tat. »Das ist lange her«, sagte er.
    Sie war drauf und dran, ihm zu erzählen, daß ihr eigener Bruder in Südwest verschollen war, überlegte es sich dann aber anders. Ihre Sorge um Elias gehörte nicht hierher. Was sie von Haupt erfahren wollte, hatte nichts mit ihm zu tun. Außerdem verspürte sie den Anflug eines schlechten Gewissens, Elias’ Namen im Beisein eines Priesters zu erwähnen.
    Sei nicht albern, durchfuhr es sie. Er ist dein Bruder. Du liebst ihn. Jeder darf das wissen.
    »Sagt Ihnen der Name Henoch etwas?« fragte sie.
    Es vergingen nur Sekunden, ehe er nickte. »Natürlich. Er war der Sohn Kains. Und der Sohn des Jared. Das macht schon zwei Henochs, allein auf den ersten Seiten der Bibel. Möglicherweise gibt es noch einige mehr, ich bin nicht sicher. Über den ersten Henoch weiß man nichts, außer

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