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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tochter, Kimberly, und Cendrine hielt es für immer wahrscheinlicher, daß damals mindestens ein weiterer Band existiert haben mußte, in dem Selkirk das künftige Schicksal seiner Familie niedergeschrieben hatte. Sie bezweifelte jedoch, daß irgendeines der anderen Bücher die Jahre nach Selkirks Tod überdauert hatte. Möglicherweise hatte sogar er selbst alle übrigen Bände vernichtet und nur diesen einen aufbewahrt, damit irgendwann doch noch jemand die ganze Größe seines Schaffens erkannte.
    Offen blieb, weshalb Selkirk die Entdeckung Henochs überhaupt geheimgehalten hatte. Warum hatte er die Stadt erst ihrem Grab im Wüstensand entrissen, um sie schließlich doch wieder den Naturgewalten der Kalahari zu überlassen? Und lag Cendrine mit ihrer Vermutung richtig, daß die archaischen Bauelemente, mit denen das Anwesen durchsetzt war, aus Henoch stammten, aus Gebäuden, die kein anderer als Kain, der Brudermörder, entworfen hatte?
    Erst als sie die Buchdeckel schließlich zuklappte, wurde ihr auf einen Schlag klar, daß sie die Person war, auf die der Lord gehofft hatte, als er den Band im Boden des Zimmers versteckte. Mit größter Wahrscheinlichkeit war sie die einzige, die die ganze Wahrheit kannte. Sie allein wußte, was Selkirk tatsächlich in den Tiefen der Kalahari entdeckt hatte.
    Erbin von Henoch, dachte sie schmunzelnd.
    Es mochte schlimmere Titel geben.
    ***
    Cendrine träumte von der Wüste.
    Sie träumte von sonnendurchglühten Dünenkämmen, von Sandstürmen, gewaltig wie die Plagen der Apokalypse, von Hunger und Durst, die ihr im Schlaf die Kehle ausdörrten. Sie träumte von Bergen aus Menschenknochen, irgendwo verscharrt unter Hügeln aus Sand, die keine Namen besaßen und auf keiner Karte verzeichnet waren. Und sie träumte von Ruinen, die ihre Mauern trotzig gegen einen Ozean aus Wanderdünen stemmten.
    Der Boden sackte immer wieder weg, während sie mit zitternden Knien einen Hang hinabstieg. Er drohte sie mit sich nach unten zu reißen, eine Lawine aus weißem Sand, so heiß, daß es weh tat, wenn er die nackte Haut ihrer Fesseln berührte. Ein scharfer Wind peitschte das Dünenmeer, machte ihre Lippen rissig und trocknete ihre Augen aus. So wie jetzt hatte sie die Wüste nie zuvor gesehen. Ihre Eisenbahnfahrt durch die Namib war dagegen wie der Besuch einer Galerie gewesen, in der Gemälde von fremden Landschaften hingen; beeindruckend, gewiß, aber ohne jeden Hauch von Wahrhaftigkeit, ohne das Gefühl von Bedrohung und Todesqual, das man hier draußen mit jedem Atemzug aufsaugte. Die Einsamkeit angesichts der Unendlichkeit. Das Verlorensein im Nichts.
    Auf den letzten Metern wurde sie vom Sand wie von einer Welle hangabwärts gespült, sie fiel auf die Knie, verbrannte sich die Handflächen. Sie schaute auf und erkannte vor sich, in einigen Dutzend Schritten Entfernung, die Ruinen. Der Sand hatte sie längst zurückerobert, nur ein Labyrinth heller Kanten und Turmspitzen ragte hüfthoch hervor, gebleicht von Jahrtausenden unbarmherziger Sonnenglut. Cendrines Hände und Schienbeine schmerzten, trotzdem gelang es ihr nicht, sich zu erheben. Es war, als preßte eine unsichtbare Faust in ihrem Rücken sie nieder, eine Forderung nach Demut und stillschweigender Bewunderung.
    Henoch, die erste Stadt der Menschheit.
    Einen Moment lang war es Cendrine, als höre sie eine Stimme. Die Stimme einer Frau, leblos wie der Wüstenwind. Es war kein lautes Rufen und tönte aus weiter Ferne, ein Flüstern, das mit dem Sand herangeweht wurde.
    Cendrine. Die Frau wisperte ihren Namen.
    Dann gelang es ihr, sich hochzurappeln. Stolpernd setzte sie sich in Bewegung, näherte sich den Ruinen im Zentrum des Dünentals. Bei jedem Schritt versank sie tiefer im Sand, erst bis zu den Waden, dann bis über die Knie. Das Laufen wurde immer mühsamer, schließlich fast unmöglich. Zugleich aber schien die Distanz keineswegs kürzer zu werden, im Gegenteil: Die Ruinen Henochs wurden mit jedem Stück, das sie zurücklegte, diffuser, schienen sich zu entfernen. Oder, nein, es war nicht die Entfernung. Es war der Sand. Gnadenlos trieb der Wind ihn in zähen Wogen vorwärts, deckte alles zu, was von der einstigen Pracht der Stadt geblieben war, verbarg die Mauerkronen hinter beißenden Wirbeln, stieg höher und höher und schluckte sie ganz. Auch die Stimme der Frau verstummte.
    Cendrine stolperte erneut, fiel nach vorne auf Brust und Gesicht und blieb liegen. Die Hitze war so qualvoll, als läge sie auf einer Ofenplatte,

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